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Arkadien 01 - Arkadien erwacht

Titel: Arkadien 01 - Arkadien erwacht
Autoren: Kai Meyer
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Wind bog die Wipfel der Zypressen jenseits der Friedhofsmauer. Für eine ländliche Gegend wie diese war der cimitero von Genuardo erstaunlich groß.
    Zehntausend Tote in zehn Jahren, erinnerte sich Rosa. Wahrscheinlich gab es auf Sizilien eine ganze Menge großer Friedhöfe.
    Die Wagenkette schob sich weiter. Rosas Blick strich über den abgeplatzten Verputz der Mauer. Hin und wieder gab es Lücken, verschlossene Gittertore, durch die sie in Gassen zwischen den Gräbern blicken konnte. Einige der einfacheren Grabstätten waren auffällig geschmückt und mit Spielzeug behangen, mit sonnengebleichten Puppen und wettergebeutelten Stofftieren. Außer den Zypressen gab es keine weiteren Bäume. Die Sonne entzog Mauern und Landschaft alle Farben.
    »Sieh dir das an«, sagte Zoe.
    Vor einem Grab, unmittelbar hinter einem der Gittertore, stand gebückt eine Gestalt, von Kopf bis Fuß ins Schwarz der einfachen Landfrauen gekleidet.
    Mit bebenden Armen hob sie beidhändig einen Vorschlaghammer und ließ ihn auf den Grabstein krachen. Eine Ecke des Steins war bereits abgebrochen, aber die Frau ließ es dabei nicht bewenden. Ohne aufzublicken, schlug sie ein ums andere Mal auf das Grabmal ein, während die Wagen im Schritttempo vorüberrollten und sie in Staubwolken hüllten.
    Florinda beugte sich vor, um zwischen Zoe und Rosa hinauszusehen. »Ich kenne diese Frau«, sagte sie.
    Rosa löste den Blick widerstrebend von dem bizarren Schauspiel und sah ihre Tante an.
    »Ihr Sohn war ein pentito , ein Überläufer, der als Kronzeuge gegen die Familien ausgesagt hat.« Florinda sprach ohne Gefühlsregung. »Er hat nicht auf das gehört, was ihm die Richter geraten haben. Statt unter neuem Namen im Ausland unterzutauchen, ist er zurückgekehrt, um seine Mutter zu besuchen. Die soldati seines Clans haben ihn am Hafen von Messina abgefangen. Eine Woche lang wurde seiner Mutter täglich ein Paket zugestellt und in jedem lag ein Körperteil.«
    Rosa blickte zurück durch den wogenden Staub. Die alteFrau stützte sich auf den Schaft des Hammers. Dann hob sie ihn abermals und brachte zitternd einen weiteren Schlag zu Stande.
    »Sie bittet um ihr Leben«, sagte Florinda. »Sie will allen zeigen, dass sie sich von ihm losgesagt hat und seinen Verrat an den Familien verurteilt.«
    Rosa berührte mit den Fingerspitzen das Fensterglas. »Aber er hat sein Leben aufs Spiel gesetzt, um sie wiederzusehen.«
    »Offenbar ist sie vernünftiger als er.«
    Das Gittertor blieb zurück, jetzt war neben ihnen wieder nur die hohe Mauer zu sehen.
    »Wird das etwas bewirken?«, fragte Rosa.
    Florinda hob gleichgültig die Schultern. »Jemand wird ihre Geste mit Wohlwollen zur Kenntnis nehmen.«
    s
    Auf dem Friedhof schlug ihnen offene Feindschaft entgegen. Die teuer gekleideten Männer und Frauen, die in einer langen Schlange vom Hauptportal bis zur Familiengruft der Carnevares standen, warfen den drei Alcantara-Frauen immer wieder finstere Blicke zu.
    Florinda hatte ihre Leibwächter, die in einem zweiten Wagen hinter ihrem eigenen gefahren waren, vor dem Tor zurückgelassen. Die Oberhäupter Dutzender Familien und deren Angehörige machten es genauso. Aus Respekt vor dem Toten verzichteten die Clans auf Imponiergehabe und unverhohlene Drohgebärden. Dennoch machten viele kein Geheimnis aus ihrer gegenseitigen Abneigung.
    Rosa berührte das kaum. Sie fühlte sich noch immer wie eine Beobachterin in einem Kriegsgebiet, als ginge sie das alles nichts an. Aber sie machte sich nur etwas vor, natürlich. Im selben Moment, da sie sich mit Florinda und Zoe zeigte, gab es keinen Zweifel mehr, auf welcher Seite sie stand. Jeder hasserfüllte Blick, der die Alcantaras traf, galt ebenso ihr wie Florinda und Zoe.
    »Mach dir keine Sorgen«, flüsterte ihre Tante. »Keiner hier wird es riskieren, das Konkordat zu brechen.«
    »Das was?«
    »Ein altes Friedensabkommen«, sagte Zoe. »Niemand mag die Alcantaras, aber keiner würde es wagen, gegen uns vorzugehen.«
    »Wenn es solch ein Abkommen gibt«, sagte Rosa, »wer wacht dann darüber, dass es eingehalten wird?«
    Sie erhielt keine Antwort, denn nun tauchte vor ihnen die prunkvolle Grabkapelle der Carnevares auf. Es musste sich um eines der ältesten Bauwerke des Friedhofs handeln, war höher als die übrigen, nicht aus Marmor, wie einige der moderneren Grüfte, sondern aus dem bräunlichen Tuffstein der sizilianischen Barockpaläste. Zu beiden Seiten des Eingangs zogen sich Leisten aus gemeißelten Tierfiguren und
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