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Aristoteles: Grundwissen Philosophie

Aristoteles: Grundwissen Philosophie

Titel: Aristoteles: Grundwissen Philosophie
Autoren: Wolfgang Detel
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allem propositionale Einstellungen) identisch mit oder verschieden von der physischen Grundlage des Gehirns oder anderer Teile der Natur? Die Identitätstheorien sagen: identisch, die dualistischen Theorien sagen: verschieden.
    Im aristotelischen Sinne beseelt zu sein ist konstitutiv oder essenziell dafür, dass etwas ein physisches Lebewesen ist. Daher stellt sich für die aristotelische Psychologie das Leib-Seele-Problem nicht. Die Unterscheidung wichtiger Funktionen der Seele im aristotelischen Sinn – Funktionserfüllung, Empfindungs- und Wahrnehmungsfähigkeit, Denkfähigkeit – entspricht recht genau der Unterscheidung wichtiger Ebenen des Geistes in modernen Theorien; und mit dem Konzept der vegetativen Seele ist das biologische Fundament des Geistes angesprochen. Aristoteles’ Theorie der Seele naturalisiert die Vorstellung von der Seele. Der Physikalismus und Biologismus, die Abschwächung des ontologischen Leib-Seele-Problems, die Bindung der Idee der Seele an die Funktionalität des Körpers, die verschiedenen Aspekte des Seelischen – in all diesen Punkten kommt die aristotelische [129] Psychologie den heutigen Theorien des Geistes wesentlich näher als die frühneuzeitlichen, subjektphilosophisch geprägten Vorstellungen vom Geist. 43 Dies gilt auch für die Rehabilitierung der kognitiven Emotionstheorie des Aristoteles in der modernen Emotionsforschung. 44
    Wenden wir uns jetzt aber dem ethischen Neoaristotelismus zu. Diese Position durchlief zwei historische Phasen, zunächst den klassischen (ethischen) Neoaristotelismus mit wichtigen Vertretern in Deutschland, etwa Ritter, Lübbe, Hennis und Marquard. 45 Die spätere Phase wird meist »Kommunitarismus« genannt und wurde hauptsächlich von angelsächsischen Philosophen wie Michael Sandel (geb. 1952), Bernard Williams (1929–2003), Alasdair McIntyre (geb. 1929), Michael Walzer (geb. 1935) und Charles Taylor (geb. 1931) entwickelt. Der klassische Neoaristotelismus knüpft an drei zentrale Elemente der aristotelischen Ethik und politischen Theorie an: die Beziehung von Theorie und Praxis, das Verhältnis von Handeln und Herstellen und den Bezug von Ethik und Politik auf das Ethos.
    Aristoteles wird vom klassischen Neoaristotelismus so interpretiert, dass die Theorie für die ethische und politische Praxis nur eingeschränkt relevant ist, weil diese Praxis nur begrenzt theoriefähig sei: Theorie richtet sich auf Allgemeines, ethische und politische Praxis ist mit Einzelnem befasst. Klugheit und Erfahrung in einzelnen Situationen sind daher fundamental für ethisches und politisches Handeln. Tatsächlich hat sich dem klassischen Neoaristotelismus zufolge gerade in den letzten beiden Jahrhunderten gezeigt, dass im gesellschaftlichen Bereich prognosefähige Theorien, die für Reformen und Planungen leitend sein könnten, unmöglich sind – entgegen den methodologischen Positionen und Hoffnungen vor allem im Lager der Sozialisten und Marxisten. Gesellschaftliche und politische Veränderungen sollten vielmehr langsam und abgestimmt auf die eingespielten Praktiken erfolgen. Aus der Art und Weise, wie Aristoteles das Verhältnis von Handeln und Herstellen bestimmt, möchten die klassischen ethischen [130] Neoaristoteliker eine Lehre für moderne Gesellschaftstheorien ableiten, in diesem Fall für die Idee vom Politischen. Nach Aristoteles ist nämlich ethisches und politisches Handeln als Selbstzweck grundverschieden von herstellendem oder produzierendem Handeln als Mittel zu gegebenen Zwecken. Daraus folgt direkt eine Kritik am technologischen Politikverständnis: Politik ist nicht eine Technologie, sondern ein Versuch, unter bestimmten historischen Bedingungen die Realisierung guter Lebensentwürfe zu fördern. Das technologische Verständnis zerstört den Kern des Politischen. Und schließlich würdigen die klassischen ethischen Neoaristoteliker die aristotelische Doktrin, dass Ethik und Politik von bestehenden Sitten und Gebräuchen, also vom Ethos, auszugehen haben; insbesondere müssen moralische und politische Entscheidungen des Einzelnen in konkreten Situationen diesen Hintergrund des Ethos stets berücksichtigen.
    Auf diese Weise versucht der klassische ethische Neoaristotelismus seine Kritik an politischer Utopie, an technologisch orientierter Gesellschaftstheorie und an moralischer Letztbegründung über universalistische Prinzipien auf Aristoteles zurückzuführen.
    Der neuere (ethische) Neoaristotelismus, also der Kommunitarismus, wurde in den
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