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Archer Jeffrey

Archer Jeffrey

Titel: Archer Jeffrey
Autoren: Kain und Abel
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ein; doch trotz dieses Lichts brauchte man noch eine Kerze, um seinen Weg zu finden. Wladek wußte nicht recht, wofür der Kerker gut war, und keiner der Diener erwähnte seinen Zweck, da er, solange man denken konnte, nicht mehr benutzt worden war.
    Wladek war sich bewußt, daß er mit Leon nur im Schulzimmer konkurrieren konnte und an den Freund in keinem Spiel außer Schach heranreichte. Der Fluß Strchara, der den Besitz begrenzte, bot reichlich Gelegenheit zu Unterhaltung. Im Frühling fischten die Jungen, im Sommer schwammen sie und im Winter, wenn der Fluß zufror, zogen sie Schlittschuhe mit hölzernen Kufen an und jagten über das Eis, während Florentyna am Ufer saß und ihnen ängstliche Warnungen zurief, wenn das Eis irgendwo dünn war. Wladek hörte nie auf sie, und er war immer derjenige, der einbrach. Leon wuchs rasch, lief rasch, schwamm gut und schien nie zu ermüden oder krank zu sein. Wladek begann zu begreifen, wieviel gutes Aussehen und ein robuster Körperbau bedeuteten; er wußte, daß er niemals hoffen konnte, Leon im Schwimmen, Laufen oder Schlittschuhlaufen ebenbürtig zu werden. Noch schlimmer war, daß das, was Leon den »Bauchknopf« nannte - er war bei ihm fast unsichtbar - bei Wladek als ein häßlicher dicker Stumpf aus dem Bauch hervorragte. Wladek verbrachte viele Stunden damit, allein in seinem Zimmer vor dem Spiegel seinen Körper zu betrachten und sich zu fragen: Warum? Warum hatte er zum Beispiel nur eine Brustwarze, während alle anderen Jungen, deren bloßen Oberkörper er gesehen hatte, zwei besaßen? Manchmal, wenn er schlaflos im Bett lag, strich er über seine glatte Brust, und Tränen des Selbstmitleids liefen ihm über die Wangen. Bevor er endlich einschlief, betete er, daß die Dinge am Morgen anders sein würden. Seine Gebete wurden nicht erhört.
    Jeden Abend nahm Wladek sich Zeit, Turnübungen zu machen, bei denen nicht einmal Florentyna zuschauen durfte. Durch eiserne Selbstdisziplin gelang es ihm, sich so zu halten, daß er größer wirkte. Er kräftigte Arme und Beine und klammerte sich, in der Hoffnung, daß er danach wachsen würde, mit den Fingerspitzen an einen Deckenbalken. Leon wuchs sogar während er schlief. Wladek mußte sich mit der Tatsache abfinden, daß er immer einen Kopf kleiner bleiben würde als der Sohn des Barons und daß nichts, absolut nichts die fehlende Brustwarze hervorzaubern konnte. Wladeks Verachtung für seinen eigenen Körper hatte keinen äußeren Anlaß, denn Leon äußerte sich nie über das Aussehen seines Freundes; er kannte keine Kinder außer Wladek, und ihn liebte er kritiklos.
    Auch Baron Rosnovski gewann den dunkelhaarigen Jungen immer lieber. Wladek war an den Platz von Leons jüngerem Bruder gerückt, der gleichzeitig mit der Mutter bei der Geburt gestorben war.
    Die beiden Jungen nahmen mit dem Baron im großen Speisesaal mit den steinernen Wänden das Abendbrot ein, während flackernde Kerzen die unheimlichen Schatten der Tierköpfe auf die Wände warfen, und die Diener lautlos mit großen Silberplatten kamen und gingen, auf denen sich Gänse, Schinken, Hummer und manchmal mazureks türmten, die Wladek besonders schätzte. Wenn nach der Mahlzeit die Dunkelheit um den Tisch dichter wurde, entließ der Baron die wartenden Diener, erzählte den Jungen Ereignisse aus der polnischen Geschichte und erlaubte ihnen, Danziger Goldwasser zu kosten, in dem winzige Goldblättchen funkelten. Sooft er konnte, bat Wladek um die Geschichte von Tadeus Kosciuszko.
    »Ein großer Patriot und ein Held«, pflegte der Baron zu sagen. »Das Symbol unseres Kampfes um Unabhängigkeit. Er wurde in Frankreich ausgebildet…«
    »Dessen Söhne wir bewundern und lieben, wie wir die Russen und die Österreicher hassen gelernt haben«, ergänzte Wladek. Seine Freude an der Geschichte war um so größer, als er sie auswendig konnte.
    »Wer erzählt wem die Geschichte, Wladek?«
    Der Baron lachte. »… und dann kämpfte er in Amerika mit George Washington für Demokratie und Freiheit. 1792 kommandierte er die Polen in der Schlacht bei Dubienka. Als unser armseliger König Stanislas Augustus uns verriet und sich zu den Russen schlug, kehrte Kosciuszko in sein geliebtes Heimatland zurück, um das Joch des Zaren abzuschütteln. Er gewann die Schlacht von wo, Leon?«
    »Raclawice, Herr, und dann befreite er Warschau.«
»Richtig, mein Kind. Dann sammelten die Russen ein großes Heer bei Maciejowice, und Kosciuszko wurde geschlagen und gefangengenommen. Mein
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