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Apollonia

Apollonia

Titel: Apollonia
Autoren: Annegret Held
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Freier von nah und fern und sogar noch von Langdehrenbach. Und sie wählten und wählten und wählten. Und sie wählten und wählten und wählten. Und die Leute sagten:
    Ihr wählt und wählt, bis ihr den Säuschwanz kriegt.
    Das schien es mir wert zu notieren, bevor sie alle starben und auf dem Kirchhof lagen und mir keiner mehr etwas erzählen konnte, wollte ich es also aufschreiben, damit ich es nicht vergesse, denn in meiner Verwandtschaft vergessen sie alles. Sie wissen noch nicht mal mehr, wo mein Großvater Klemens in Gefangenschaft war. Amerika war der doch. Ja, aber wo denn da? Ei, Amerika. Und wo festgenommen? Von den Amerikanern. Der ist … da gleich … übergelaufen.
    Wo denn? … Ei … Amerika.
    Ich war etwa sechzehn und meine Großmutter Apollonia sechzig und noch mehr. Nein, ich war beinahe siebzehn und sie siebzig oder sechsundsiebzig, Frühling oder Sommer war das, 1977, und wir hockten gemütlich beieinander in der Küche unter dem schrägen Dachjuchhee mit dem Fenster zum Zwetschgenbaum, während sie Bohnen schälte oder Brennnesseln rupfte, aber meistens saß sie am Küchentisch und las Zeitung, die »Neue Post« oder die »Sieben Tage«. Sie blätterte die Seiten um und machte von Zeit zu Zeit Geräusche wie tsd oder tschd, und von hinten sah ich ihre gekreuzten Schürzenbänder und den schweren Dotz, der ihr den Kopf in den Nacken zog und den Hals steif machte. Wer aber ein so prächtiges Nest, einen Dütz, im Nacken hatte wie sie, aus einem dicken braunen Zopf, der bis auf die Hüften reichte, der galt früher als ein schönes Mädchen. Ich fand ihn immer noch schön und betrachtete mir ewig seine seltsamen Verschlingungen und den Wechsel von silbrigen Flechtenbögen und anthrazitfarbenen Kränzen und sein herrliches Rund und kam doch nie hinter sein Geheimnis. In der Küche standen ein wunderbarer Kohleofen, den sie nicht hergeben wollte, und daneben der elektrische Herd, um abends Brot zu rösten und zwei Schaschlikspieße warm zu machen. Ich lag immer auf dem roten Sofa, genannt das »Schesselong«, unter dem bestickten Wandbehang mit der klappernden Mühle am rauschenden Bach, las oder machte Hausaufgaben oder träumte in den Tag hinein.
    Ich hatte mein ganzes Leben noch vor mir, und irgendwann spürte ich, dass es sich mit Oma nun ganz anders verhielt. In letzter Zeit machte sie immer öfter tschd und hielt sich dabei den Leib und war dünner geworden, da dachte ich, es sei besser, mit dem Schreiben anzufangen. Ich musste sehen, was sie noch freiwillig herausrücken würde von den alten Geschichten, die ich so gerne hörte, von den Schwestern Apollonia, Hanna und Klarissa, die im Saal standen und auf die Freier warteten und wählten und wählten und sich nicht entscheiden konnten, bis sie am Ende den Säuschwanz kriegten.
    Ich hatte extra ein Buch gekauft, mit orangenen Blütenblättern auf einem Umschlag aus Leinen. Es hatte fein gepunktete Linien für Menschen, die klein schreiben und ein geordnetes Gefühlsleben haben und daher nie über den Rand malen. Ich erinnere mich an die Aufregung und das Gefühl der höchsten Bedeutung und Weihen, als ich meinen Füllfederhalter aufsetzte und begann:
    Hanna, Klarissa und Apollonia waren die drei Töchter des Dapprechter Gustav, und sie waren so schön, da kamen die Freier von nah und fern und sogar noch von Langdehrenbach.
    Da begann ich auf einmal es zu sehen, ich geriet in die Hollen und in den Honiels Saal, zur ersten Kirmes nach dem Krieg in 1919, sie zogen im Festzug mit der Blasmusik von der Kirche herein, der ganze Saal war geschmückt mit Birkenreisig und Fichtengrün, und in das Fichtengrün war das Stanniolpapier hineingebunden, das sie jahrelang säuberlich von Schokoladentafeln abgenommen und in der Schublade gesammelt hatten. Die Musiker nahmen Platz auf der Bühne mit Trompete, Pauke, Horn und Tuba und sammelten von den Männern die Tanzgroschen ein. Der Wirt streute immerzu Soda auf die Tanzfläche, damit alle ordentlich rutschten.
    Meine Großmutter Apollonia trug ihr einziges schönes dunkles Kleid, das hatte einen bestickten Kragen und bezogene Knöpfe und einen Plisseerock und dazu hohe geschnürte Schuhe, die mussten schon im dritten Jahr halten. Hanna, Klarissa und Apollonia mussten sich zu den Unverheirateten an die Wand stellen und warten, ob sie denn einer zum Tanzen holte. Es war so warm, dass die Fenster offen standen und die Lieder hinausklangen durch ganz Scholmerbach, und wer nicht mitkonnte auf die Kirmes,
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