Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Apollonia

Apollonia

Titel: Apollonia
Autoren: Annegret Held
Vom Netzwerk:
Marlene war ein Flittchen geworden und musste nach Frankfurt gehen!
    Ich sah Jimmy an, und er sah mich an, und er war noch immer verschwommen, ich erinnere mich an das ganze Kirmeszelt verschwommen, ich sehe ein wogendes Kirmesmeer, und wir tanzten, und alles tanzte, alles war bunt, alles drehte sich, ich spüre noch die Schlechtigkeit im Magen. Wir haben getanzt, ich weiß kaum noch, wie das alles war, nur noch ein buntes, tanzendes, feuchtes, lautes Kirmeszelt.
    Irgendwie war er es dann, mein Kirmeskerl, ein Ami.
    Aber später dann. Vor dem großen Zelteingang.
    Als ich mit Jim Larry David Logan hinausgegangen bin.
    Da war ich wieder wach, da kam nämlich die klare, frische, rabenschwarze Allmacht, die Dorfnacht, die große schwarze, blühende Dorfnacht, die Sommernooscht und Bloiteduft, die sich auftun, da muss man nichts mehr sehen, da muss man nur noch hin und her wanken und sich glücklich schätzen, von dem Rausch des Bieres in den Rausch der nächtlichen Blütendüfte hinüberzutaumeln. Man kann noch ein wenig singen oder laut was sagen, auch wenn man allein ist. Niemand, der hochdeutsch spricht, kann mitreden. Nur wer meine Sprache spricht und mit der Zunge donnern kann, als würde ein holperiger Zug um die Kurve fahren auf einem rostigen Gleis durch Gebüsch und Gestrüpp, der kann das Lied von der »Sommernooscht und Bloiteduft« richtig singen.
    Meine Kirmesnacht war niemals eine andere als die Kirmesnacht der Apollonia, und Apollonias Dorfnacht war niemals eine andere Nacht als alle Sommernächte bei uns. Das ist seit Hunderten von Jahren so, und die Kirmesnacht hat sich eingebrannt in den Dorfplatz, und alles, was wir getanzt haben, hat sich eingebrannt, und was wir gesungen haben, hat sich eingebrannt, und was wir geheult haben auch. Und ich bin tausendmal durch die Nacht gezogen und nicht heimgegangen, am Kirchhof vorbei, wo sie liegen und nicht mehr tanzen, im ganzen Dorf hört man es kichern oder singen oder weinen in der rabenschwarzen Kirmesnacht, wenn die Blumen auch besoffen sind und blühen und sich besinnungslos im Rausch verschwenden. Ich bin aus dem Kirmeszelt gefallen, mit Jim Larry David Logan, und habe ihn durch die Straßen von Scholmerbach gezerrt, und wir sind auf Abwege gekommen, jeder Weg durch Scholmerbach ist ein Abweg, man kann an den Sumpfwiesen bei den Brennnesseln landen oder beim Schreiner-Bernhard seinen Schafen und sich mit den anderen im dicken Baum verstecken oder versuchen, in der Leichenhalle einen Toten zu sehen. Man kann auf dem Zimmerplatz aus Balken und Brettern Türme bauen oder in Sägemehlshaufen springen oder versuchen, bei der alten Meelbachs Minna durch die Fensterläden zu schauen, ob sie aus der Zeitung einen neuen Liebhaber hat. Man kann über die Sakristei auf das Kirchendach klettern und oben geklaute Reval rauchen. Was immer man macht, die Nacht dauert niemals lange genug, aber wenn man in der Nacht ist, glaubt man, sie ist ewig, und wenn sie droht zu vergehen, muss man weinen. Ich erinnere mich an aufgerissene Waden von Dornschlehensträuchern, an nasse Strümpfe und schmutzige Knie, ich erinnere mich an Sägemehl in den Kleidern und an Bier auf dem T-Shirt und Gräser im Haar.
    Am nächsten Tag geht es dir miserabel, und du willst nur verborgen sein unter einem Gebirge von Federkissen, du willst nichts wissen von dem, was sie dir durch die Türen entgegenplärren, und egal, was sie plärren oder schimpfen oder schreien, du suchst nach Wasser und nach Vergessen und Dunkelheit und sagst dir nur: Aber Hauptsache, es war schön, aber Hauptsache, es war schön … Den dreckigen Tag vermeidend weißt du, dass nichts, nichts, nichts auf der Welt der Dorfnacht mit Sommernooscht und Bloiteduft etwas anhaben kann.
    An anderer Stelle, wenn ich in Stimmung bin, aber nur, wenn mir danach ist, werde ich mal erzählen, wie man die Sommernooscht singt, obwohl … es ja niemand verstehen wird, der nicht meine Sprache spricht, der nicht mit der Zunge donnern kann, als wenn ein rostiger Zug gefahren kommt und auf krummen Gleisen durchs Gebüsch rauscht … und wieso soll ich es auch erzählen, es ist unser Lied, und es ist so schön, dass man es nicht preisgeben mag, auf dass der Zauber brechen könnte. Ich darf es vielleicht nicht erzählen, nein, nein, ich darf es nicht.
    Meine Großmutter Apollonia war schon lange auf und schälte Kartoffeln und blickte kaum auf, als ich hereingekrochen kam, verquollen und krank und blind vom Tageslicht und ohne Wegsteuer.
    – Na,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher