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Apollonia

Apollonia

Titel: Apollonia
Autoren: Annegret Held
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arbeitete mit unbeweglicher Miene wieder auf den Feldern und fuhr später mit anderen aus dem Dorf auf die Baustellen. Keiner hat ihm ins Gesicht geschaut, und keiner hat sich gewagt zu sagen: Was genau hast du gemacht, in diesen Lagern? Hast du die Menschen vergast und abgeschlachtet und aufgeknüpft und verrecken lassen, wie sie es gezeigt haben in den Filmen bei den Amerikanern und wie sie es im Radio erzählt haben? Warst du dabei? Er war ein grausamer Mensch geworden, ein brutaler, grausamer Mensch, der schlimmsten einer, den keiner mehr um sich haben mochte, aber seine Frau sagte, so schlimm kann er nicht gewesen sein, was wollt ihr denn, sie haben ihn ja nicht geholt!
    Meine Tante Hanna hatte den Krieg gut überstanden, und Großtante Klarissa war noch dünner geworden und noch bescheidener und war schon so lange Witwe. Aber sie hatte zwei wohlgeratene Söhne und eine Tochter, die war freundlich und leise wie sie selber, und sie lebten von der Dachdeckerei in Wennerode. Tante Hanna und Tante Klarissa ging es also leidlich gut, und das erkannte man daran, dass beide schon eine Klospülung im Haus hatten, und meine Großmutter Apollonia hatte noch immer einen Abtritt, der hinter der Scheune in der Außenwand vom Stall eingelassen war, sodass sie im Winter frieren musste.
    Damit nun ein Klo ins Haus kam und auch eine gute Stube eingerichtet werden konnte, war es dringend erforderlich, dass mein Großvater auf dem Zimmerplatz mehr Geld verdiente. Man wollte ja aus dem Elend heraus!
    Eines guten Tages hatte meine Großmutter Apollonia es geschafft, meinen Großvater mit viel Zureden und Bitten und Klagen dazu zu bringen, dass er diesen Winter mit meinem Onkel Balduin in das Ruhrgebiet fuhr und etwas dazuverdiente. Das war nötig gewesen, denn zu allem Unglück dauerte der Winter bei meinem Großvater Klemens lang, sehr lange und viel länger als bei den anderen Männern im Dorf.
    Der Winter meines Großvaters dauerte so lange, bis die Maiglöckchen blühten und die Kuckucksblumen blühten und der Waldmeister. Im Winter bekamen die Zimmerleute nämlich Schlechtwettergeld, doch wenn sie im Frühling wieder arbeiteten, bekamen sie wieder richtigen Lohn. Und während der alte Josef, Balduin und Dagobert, der Willi und sogar der einarmige Konrad schon lange wieder sägten und hobelten und nagelten und bauten, lag bei meinem Großvater noch Schnee und Eis, und er ließ es sich gutgehen und lauschte dem Singen und Gurgeln vom Schafsbach hinterm Hof. Erst wenn seine Brüder ihn hinausjagten und schimpften, dass er ein Taugenichts sei und ein Langschläfer und ein Allnichtgut, und dass er gefälligst die Dampfmaschine anwerfen und sich bekümmern sollte, dann merkte er allmählich, dass der Frühling übers Land gezogen war.
    Weil er nun ganz gegen seine Gewohnheiten einen Winter mit ins Ruhrgebiet gefahren war, konnte auch Apollonia endlich eine Toilette im Haus mit einer Klospülung bekommen, und sie machten sie vor der Haustür in den Vorbau hinein. Und dann kauften sie einen Buffetschrank, einen Wohnzimmertisch, einen Sessel und ein rotes Schesselong. Danach arbeitete mein Großvater nie wieder mit Onkel Balduin im Ruhrgebiet, und sein Winter dauerte wieder so lange, bis alle Blumen blühten im ganzen Land und es nach Flieder duftete allüberall.
    Nach den Kriegsjahren wuchs in Scholmerbach vorsichtig ein spärliches Gras über die Grausamkeiten der vergangenen Jahre.
    Sie beteten für ihre Toten und grämten sich um die Vermissten und lebten mit ihren Krüppeln und halfen sich gegenseitig, die Häuser und die Ställe herzurichten und die Ernten einzubringen und das Vieh zu versorgen. Dann drängten sie sich um die lustigen Amerikaner und zogen hinaus zum Tanzen und zum Singen und sich Verlieben und hatten einen unstillbaren Drang, wieder zu lachen und zu feiern und das Unglück zu vergessen. Alle mussten sehen, wie sie sich wieder zurechtfanden in der Welt, und es war ganz gleich, auf welche Weise sie es schafften, aber es hat jeder jedem geholfen, das sagten sie immer wieder. Es hat jeder jedem geholfen, das mussten sie immer wieder beschwören, sogar die Dörfer haben sich gegenseitig geholfen, Linnen hat Pfeiffensterz geholfen, und Wällershofen hat Bölsbach geholfen, und Hellersberg hat Scholmerbach geholfen, und Ellingen hat Wennerode geholfen. Alle zusammen haben sie Köln, Koblenz und Frankfurt geholfen, sonst hätten die es schon gar nicht geschafft.
    Nur dem Pfarrer Klarfeld ist es nicht gut gegangen. Als er
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