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Apollonia

Apollonia

Titel: Apollonia
Autoren: Annegret Held
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wiedergekommen ist, war er nicht mehr derselbe, ganz verjagt und verscheucht und verstört, und man wusste nicht, was sie mit ihm gemacht haben und was er erlebt hatte. Wie ein Geist ist er herumgelaufen und sie haben ihn gar nicht mehr brauchen können für die katholische Kirche. Wenn man ihn angesprochen hat, ist er fortgelaufen, und man musste ihm nachlaufen, um ihm etwas zu essen zu geben. Später haben sie ihn zu den Palottinern bringen müssen, denn er war nicht mehr Herr seiner selbst.
    Sie wollten aber dem Pfarrer Klarfeld was Gutes tun und ihm eine Freude machen. Da fiel ihnen ein, dass es Zeit war, die Glocke wieder auszugraben, die sie im Krieg versteckt hatten. Die Zimmerleute spannten die Pferde ein, die brave Liesel und den blinden Hans, und sie fuhren zu den Weidehecken, und dort haben sie gegraben, sieben Scholmerbacher, einarmig und zweiarmig, und haben die Glocke wieder hervorgeholt, zentnerschwer aus der Glockengießerei Apolda hatte sie in der Erde geschlafen und den Krieg überdauert.
    Die Scholmerbacher machten sie sauber, und dann wurde die Glocke geschmückt und mit Bändern und Fichtenkränzen behängt, und die Leute zogen ihre Festtagskleider an. Hans und Liesel brachten feierlich die Glocke zum Kirchturm, und der Pfarrer Klarfeld in seinem verwirrten Geist hat sie noch einmal gesegnet, und als sie endlich wieder im Glockenturm hing, da weinten alle Leute.
    Sie mussten die Glocke läuten, um die Schrecken zu vertreiben und die erbarmungslosen Gräuel und den furchtbaren Schmerz und das, was der Mensch nicht mehr ertragen konnte, zu vergessen und zu übertönen und um unseren Herrgott anzurufen, und sie schlugen die Glocke besinnungslos.
    Überall wurden wieder die Glocken aufgehängt, in Scholmerbach und in Linnen und in Böllsbach und in Wennerode, in Pfeiffensterz, in Wällershofen, in Ellingen, in Hellersberg und sogar in Langdehrenbach. Auf der Glocke von Hellersberg stand eingemeißelt:
    »Tröstet – Tröstet mein Volk!« Von Wennerode läutete es: »Kommt her zu mir, die ihr mühselig und beladen seid!«, und von Scholmerbach klang es: »Muttergottes, bitte für uns«, und von Bölsbach scholl es: »Barmherzig und gnädig ist der Herr«, und von Linnen rief sie: »Friede auf Erden«.
    Die älteste Glocke aber hing in Ellingen und auf ihr stand: »Osanna heißen ich, alle Weder vertreiben ich, Dillman von Hachenburg goss mich, Anno Domini 1462.«
    Bis hierher reichen die Aufzeichnungen in meinem fleckigen, geblümten Stoffbuch, aus dem alsbald die Fäden hingen und türkise Tinte mit krakeligem Kugelschreiber wechselte. Es folgten einige Sätze wie:
    – Onkel Egon immer noch in Gefangenschaft!!
    – Kirmes! Kirmes überall!
    – Heimatfilm Schwarzwaldmädel mit Sonja Ziemann und Rudolf Prack!!
    Amerikaner auf der Struderlehe bleiben für immer!!! Für immer!!!
    – Alle heiraten Amerikaner oder werden Flittchen!!!
    – Opa geht immer auf den Lumpenball und wird von Oma verkloppt!!
    Die Sätze wurden immer dünner und verloren sich in alten Kuchenrezepten, und dann beschrieb ich Westerwälder Eierkäse, einen gelben Kuchen, mit lauter kleinen Hüpfelchen, den bestäubte man mit Zimt.
    Er ist so wunderschön, der Eierkäse.
    Und damit klappte ich mein Buch zu.
    Ich hatte keine Zeit mehr. Jim war zurück aus dem Manöver und erwartete mich im Polters in unserer Dorfdisco. Ich musste mir überlegen, wie böse ich ihm war. Es gab so etwas wie eine Überlegenheit des Alters und ich hatte noch die Stimme meines Vaters im Ohr:
    Marie – dou seyst immer noch sechzehn, und er ist einundzwanzig, und da hat ein junger Mann schon ganz andere … andere … Vorstellungen und … Ansprüche an ein Mädchen oder eine junge Frau, die dou noch nicht erfüllen kannst!
    Vielleicht hatte mein Vater ja ausnahmsweise mal recht. Und wenn ich sie nicht erfüllen konnte und Jim davon krank geworden war und richtig schlimme Schmerzen gekriegt hatte, und es fühlte sich an wie Schwindsucht oder eine Kolik, dann konnte man als Mädchen gar nicht wissen, wie das ist. Welche Qualen er womöglich ausgestanden hatte. Bei Männern war ja alles irgendwie komisch, man wusste ja, dass sie scharenweise den Verstand verloren und schlimme Sachen machten, wenn es um solche Dinge ging. Außerdem musste man zu seiner Entlastung sagen: Er hatte mich vor den Augen von Lydia geküsst und mir das Geschenk gegeben und zu mir gesagt: I love you.
    Die Sache war die: Jim und ich wären sicherlich längst schon ganz richtig
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