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Apocalyptica

Apocalyptica

Titel: Apocalyptica
Autoren: Oliver Graute
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fast. Dann ist sie im Zentrum des Sturms, und Stille herrscht. Der Knabe erwartet sie bereits.
    „fÜrchTesT dU DicH?“ Wieder die Stimme wie zerspringendes Glas, doch der Jüngling öffnet den Mund nicht. Das Ding an seiner Schulter formt die Worte mit seinem Schlund.
    „Wo ist meine Tochter?“ Mit ruckartigen Bewegungen blickt die Frau sich um. „Gib mir meine Tochter zurück!“, kreischt sie.
    „TOchteR? eS giBt KEinE TochTer. NuR dich uNd MICH.“ Die Stimme aus splitterndem Glas klingt fast mitleidig, auch wenn sie das Konzept nicht versteht.
    Erkennen stiehlt sich auf die Miene der Frau. Eine grausame Erkenntnis schleicht sich in ihr Herz. Betrogen. Der Wanderer hat sie betrogen.
    Sie wendet sich um. Ihr Blick irrt suchend durch das Chaos aus winzigen Leibern. Sie findet das Geschöpf, das der Wanderer ist. Seine Gestalt hat nichts mehr mit dem Mann zu tun, den sie geliebt hat. Er ist nur noch … unfassbar. Trotzdem erkennt sie, wie er den Kopf schüttelt. Langsam, unmerklich, nur für sie erkennbar. Wie eine Furie fährt sie herum und stürzt sich auf das namenlose Grauen vor sich. Frei von Angst, nur blinde Wut und göttlicher Zorn. Wie besessen hämmert sie mit den Fäusten auf den Jüngling ein, der sich unter der Wucht ihrer Schläge zusammenkrümmt und zu weinen beginnt. „NicHt, NeiN, MaMI, hÖr AuF!“
    Unter ihren Schlägen wandelt sich der Jüngling zu einem kleinen Jungen, doch Lâle hat längst aufgehört zu glauben, was ihre Augen ihr vorgaukeln. „Gib mir meine Tochter wieder, ich will Schawâ zurück.“ Durch den Schleier aus Tränen erkennt sie, wie die blutige Masse unter ihr aufhört zu zucken. Dennoch drischt sie weiter auf das Ding unter ihr ein, bis ein gleißendes Licht sie einhüllt, sie blendet. Ihre Hände sind schwer wie Blei, ihre Arme schmerzen. Vor ihrem inneren Auge erkennt sie vier Gestalten um sie herum. Sie wirken wie eine Ehrengarde, die einen hochrangigen Gefangenen eskortieren.
    Der Engel, der einst der Wanderer war und vielleicht auch wieder sein wird, blickt Lâle an. „Freier Wille, Menschenfrau. Du hast eine Entscheidung getroffen und damit das Schicksal deines Planeten besiegelt. Von nun an werdet ihr ohne die Mächte der Schöpfung leben. Im Guten wie im Bösen. Ihr seid nun auf euch gestellt. Der Widersacher ist frei, sein Gefängnis hält ihn nicht länger an diesem Ort. Du hast ihn befreit, und wir sind dir dankbar dafür. Du hast vermocht, was uns nicht möglich war. Leb wohl, Lâle, Schwester von Engeln. Wir werden uns nicht wiedersehen, ganz wie du es dir gewünscht hast.“
    Mit diesen Worten verblasste das grelle Licht, und Lâle war allein. Sie war zu schwach, um noch etwas erwidern zu können, und ihr war auch nicht klar, was sie in diesem Moment hätte sagen sollen.
    Der Klang einer glockenhellen Stimme vertrieb schließlich die düsteren Schatten aus Lâles Herzen. „Ama, Ama, da bist du ja endlich! Ich habe dich die ganze Zeit gesucht.“ Überglücklich fielen Mutter und Tochter einander in die Arme. Lâle glaubte, ihr Herz müsse vor Glück zerspringen, und Schawâ ächzte unter dem kräftigen Griff ihrer Mutter. „Jetzt gehst du aber nie wieder fort, versprochen, Ama?“
    „Nein, mein Schatz, ich lass dich nie wieder im Stich.“

    Der stählerne Engel beobachtete die Frau von seinem erhöhten Posten zwischen den Felsen aus. Es schien ihr gutzugehen. Er war seinem Sohn bis hierher gefolgt, nachdem der Morgenstern sich seiner bemächtigt hatte. Die ganze Zeit über hatte er gedacht, es sei seine Bestimmung, den Widersacher aus der Welt zu verbannen. Er hatte die Malereien gesehen. Der Heilige in der schimmernden Rüstung, der mit seiner Lanze den Drachen unterwarf. Georg war sein Name gewesen. So wie seiner, ehe er der Engel Thariel wurde. Er entsann sich an alles. Sein Leben, bevor er ein Sendbote des Herrn geworden war. Jetzt war es vorbei, und er fragte sich, was der Herr wohl mit ihm vorhatte, wenn er nicht der Heilige Georg war. Er würde es herausfinden. Früher oder später.

    Ein helles Licht breitete sich plötzlich über den Himmel aus und sprang wie Elmsfeuer von einem Dämon zum nächsten. Als habe man Wasser in eine flammende Lohe geträufelt, vergingen die Kreaturen wie Schneeflocken im Frühling. Die Schreckensschreie der sterbenden Soldaten und Engel verwandelten sich in Ausrufe des Staunens und des Glücks über die unerwartete Wendung ihres Schicksals. In die Freudenschreie jedoch mischte sich ein weiterer, panischer Ruf.
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