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Anubis - Roman

Titel: Anubis - Roman
Autoren: Bastei Lübbe
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Streifen aus weißem Sand, der die fünfzehn Meter hohe Felswand vom Wasser trennte, war unter einem Wirrwarr aus zerborstenem Stein und zyklopischen Felstrümmern verschwunden, der sich wie eine roh aufgeschüttete Mole dreißig, vierzig Meter weit ins Meer erstreckte, bevor er allmählich flacher wurde und schließlich ganz verschwand. Noch immer hing Staub wie feiner Nebel in der Luft, und obwohl der Wind seewärts wehte, glaubte Mogens einen schwachen Geruch wie nach zermahlenem Stein und faulem Seetang zu verspüren. Weit draußen im Meer, gerade an der Grenze des überhaupt noch Sichtbaren, schien etwas im Wasser zu treiben, das wehende Haar einer Meerjungfrau, die sich langsam wieder in die lichtlosen Tiefen zurückzog, aus der sie gekommen war. Aber das lautlose Wogen und Gleiten dicht unter der Wasseroberfläche nahm bereits ab, so wie auch der Staub allmählich auseinander trieb. Nur noch kurze Zeit, und das gewaltige Trümmerfeld würde sich in nichts mehr von zahllosen anderen Stellen unterscheiden, die es an diesem Teil der Küste gab.
    »Ist es vorbei?«, fragte Miss Preussler leise. Er hatte sogar gehört, dass sie neben ihn getreten war; trotzdem fuhr er so erschrocken zusammen, dass sie ihn fast schuldbewusst ansah und wieder einen Schritt weit vor ihm zurückwich.
    »Ich wollte, ich wüsste es«, murmelte er, zwang sich aber schon im nächsten Augenblick zu einem aufmunternden Lächeln. »Doch«, behauptete er. »Ich denke, es ist vorbei!«
    »Und woher nehmen Sie diese Überzeugung, Professor?«, fragte sie. Mogens fiel erst jetzt auf, wie schlecht sie aussah. Das Sonnenlicht, das er das letzte Mal vor tausend Jahren auf ihrem Gesicht gesehen hatte, verlieh ihren Zügen eine Lebendigkeit, die ihn im allerersten Moment darüber hinweggetäuscht hatte, wie müde und unglaublich erschöpft sie aussah. Sie war, ebenso wie er, bis auf die Haut durchnässt. Haare und Kleider klebten nass und schwer an ihr, und unter der Sonnenbräune war ihre Haut so fahl wie die einer Toten. Ihr bisher so glattes Gesicht hatte nun dunkle, tief eingegrabene Linien bekommen, und als Mogens in ihre Augen blickte, wusste er, was man darunter verstand, wenn man sagte, dass ein Mensch seine Unschuld verloren hatte. Miss Preussler hatte ihre Unschuld verloren. Sie alle hatten das, in dieser Nacht. Und einige von ihnen auch noch mehr.
    »Nun, ganz einfach, Miss Preussler«, antwortete er in gezwungen lockerem Ton. »Ich glaube nicht, dass irgendein Mensch so etwas zweimal im Leben überstehen kann. Und da ich nicht vorhabe, so bald zu sterben, muss es wohl vorbei sein.«
    Miss Preussler blieb ernst. »Ich bin so erleichtert, dass Sie noch am Leben sind, Professor«, sagte sie. »Als ich gesehen habe, wie der Berg zusammenbrach, da war ich sicher, es wäre um Sie geschehen. Wie, um Himmels willen, sind Sie dort herausgekommen? Die Engel müssen ihre schützende Hand über Sie gehalten haben.«
    »Vermutlich«, antwortete Mogens lächelnd. »Auch wenn ich glaube, dass es nur einer war.« Ihr Blick wurde fragend – fast ein bisschen misstrauisch –, aber Mogens kam ihr zuvor, indem er selbst eine Frage stellte: »Wie sind Sie herausgekommen? Als die Barke umgeschlagen ist …«
    »… dachte ich, es wäre um mich geschehen«, fiel ihm Miss Preussler ins Wort. »Ich hatte wohl einfach Glück. Ich …« Sie suchte einen Moment sichtbar nach Worten, und als sie endlich weitersprach, sah sie Mogens nicht mehr direkt in die Augen, so als wären ihr ihre eigenen Worte überaus peinlich. »Nun, um offen zu sein, ich … kann nicht schwimmen.«
    »Sie können nicht schwimmen?«, vergewisserte sich Mogens.
    Sein überraschter Ton galt eher dem Umstand, dass sie lebend vor ihm stand und überhaupt zu diesem Eingeständnis in der Lage war, aber Miss Preussler schien ihn wohl gründlich misszuverstehen, denn sie sah sich ganz offensichtlich zu einer Verteidigung genötigt. »Ich habe diese Fertigkeit eben nie erlernt«, sagte sie patzig. »Und? Die Gelegenheit hat sich nie ergeben. Und ich war bisher auch der Meinung, sie nicht zu benötigen.«
    Mogens versuchte sich Miss Preussler in einem Badeanzug vorzustellen und hatte plötzlich eine ziemlich konkrete Ahnung, warum sich ihr niemals die Gelegenheit geboten hatte, diese Fertigkeit zu erlernen. Natürlich hütete er sich, sich auch nur irgendetwas davon anmerken zu lassen, aber Miss Preussler schoss einen so zornigen Blick in sein Gesicht ab, als hätte sie seine Gedanken gelesen.
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