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Ansichten eines Hausschweins - Neue Geschichten ueber alte Probleme

Ansichten eines Hausschweins - Neue Geschichten ueber alte Probleme

Titel: Ansichten eines Hausschweins - Neue Geschichten ueber alte Probleme
Autoren: Harald Martenstein
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wird.
    Sie überredete mich zu einem Spaziergang in der Abenddämmerung. Sie achtete darauf, dass uns Leute sahen und dass wir einen harmonischen Eindruck machten. Dann gingen wir zu der Stelle. Ich blieb an der Stelle stehen, natürlich wegen der grandiosen Aussicht, genau auf dem richtigen Punkt, ein paar Zentimeter vor dem Abgrund. Sie stand hinter mir.
    »Warum hast du es dir anders überlegt?«, fragte ich. »Ich hatte plötzlich das Gefühl, mit der Schuld nicht leben zu können«, sagte sie. »Ich hätte mein Leben lang an diese Sache denken müssen und mich schlecht gefühlt. Das ist mir in letzter Sekunde klar geworden.«
    »Ach, in Wirklichkeit hättest du diese Sache doch heute wahrscheinlich längst vergessen«, sagte ich. »Da hast du dir unnötig Sorgen gemacht. Reue, schlechtes Gewissen, das verdrängt man doch.«
    »Stimmt«, sagte sie.
    Mehr als die Hälfte aller Morde bleiben unentdeckt, das habe ich irgendwo gelesen. Es laufen jede Menge unentdeckte Mörder herum. Diese Kolumne wird von Tausenden Mördern gelesen, oder etwa nicht?
    Ich bin, in jenem Urlaub, am nächsten Tag schnorcheln gewesen. Beim Schnorcheln hat mich eine Welle gepackt und an die Felsküste geworfen, mitten hinein in die scharfkantigen Steine und in eine Seeigelkolonie. Dorfbewohner haben mich halb bewusstlos aus dem Wasser gezogen. Ich blutete stark, in meinem Oberkörper steckten dreißig Seeigelstacheln. Meine Freundin holte sie mit der Pinzette heraus, einen nach dem anderen, tupfte Jod auf die Wunden und klebte Pflaster auf die kaputtesten Stellen. »Da hast du mir leidgetan«, sagte sie. Wegen der Seeigel-Sache habe sie die Mordidee endgültig aufgegeben.
    »Weswegen wolltest du mich eigentlich ermorden?«, fragte ich.
    »Du, so ganz genau weiß ich es heute gar nicht mehr«, sagte sie. »Tut mir leid.«
    »Macht doch nichts«, sagte ich.

Begüterte
    Der Innenminister, Thomas de Mazière, hat zu einer Schülerdemonstration gegen den Stuttgarter Bahnhof mit dem folgenden Satz Stellung genommen: »Wenn Tausende Schüler von ihren begüterten Eltern Krankschreibungen bekommen, um zu demonstrieren, dann ist das ein Missbrauch des Demonstrationsrechts.«
    Ich frage mich, wieso der Minister in diesem Satz das Wort »begütert« verwendet hat. Das Demonstrationsrecht ist, soweit ich weiß, in unserem Land für Begüterte und Unbegüterte gleich. Wenn Eltern ihrem Kind eine falsche Krankschreibung geben, dann ist es folglich zur Beurteilung dieses Verhaltens egal, ob die Eltern viel Geld haben oder wenig. Gleiches Recht für alle – so heißt es doch.
    Offenbar wollte der Minister durch die Verwendung des Wortes »begütert« Eltern, die falsche Krankschreibungen zum Zwecke des Demonstrierens verfassen, besonders unsympathisch und besonders skrupellos erscheinen lassen. Eine andere Erklärung für das Wort »begütert« habe ich beim besten Willen nicht finden können.
    Aber ich kann das nicht begreifen. Es ist doch gar nicht so schlimm und nicht von vornherein verwerflich, wenn jemand ein bisschen Geld auf der hohen Kante hat, ein Haus in Halbhöhenlage oder einen guten Job. Der Minister ist wahrscheinlich selber begütert! Es gibt doch sympathische und verantwortungsbewusste Menschen auch unter den Begüterten. Wer soll denn die ganzen Steuern zahlen, wenn es keine Begüterten mehr gäbe? Wer soll die Daimlers kaufen? Und wer soll CDU wählen? Der Minister ist in der CDU . Wenn ein CDU -Minister auf die Begüterten schimpft, dann ist das so, als ob Gregor Gysi von der Linkspartei in einer Rede sagt, von armen Leuten würde er Pickel kriegen. Ich denke mal, da bekäme er parteiintern eine Menge Ärger.
    Man kann oft gar nichts dafür, dass man begütert ist. Man sucht sich das nicht aus. Jemand ist im Beruf halt gut, so ein Mensch ist vielleicht ein Arbeitstier oder ehrgeizig, einfach so, charakterlich. Man macht eine Erfindung, gründet eine Firma, die super läuft, man wird Tatort- Kommissar, man kann malen wie Picasso oder landet einen Hit – schon ist man begütert.
    Es kann jeden treffen, über Nacht. Ja, mein Gott, was ist denn so schlimm daran? Den Tatort- Kommissar spielen, schöne Bilder malen, eine Geschäftsidee haben, Intendant werden, das muss doch alles auch jemand machen. Es können doch nicht alle arm sein, auch wenn Herr de Mazière das sympathischer findet. Die Gesellschaft kann so nicht funktionieren.
    Und dann habe ich an die Migranten gedacht. Die CDU sagt, die Migranten sollen sich integrieren. Sie
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