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Ansichten eines Hausschweins - Neue Geschichten ueber alte Probleme

Ansichten eines Hausschweins - Neue Geschichten ueber alte Probleme

Titel: Ansichten eines Hausschweins - Neue Geschichten ueber alte Probleme
Autoren: Harald Martenstein
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möchte, deutsche Wohlfühl-Literatur. Er ist wie Heino oder wie die Wildecker Herzbuben, nur böser.

Über Michael Jackson
    Aus gegebenem Anlass vergleiche ich den Text von »Billie Jean«, Michael Jackson, mit dem Text von »In the Ghetto«, Elvis Presley, beide Texte von mir in freier Form übersetzt.
    Beide Songs gehören zu den größten Hits zweier der erfolgreichsten Musiker der Geschichte. In beiden Songs geht es um Mutterschaft und prekäre Familienstrukturen. Die Protagonistin von »In the Ghetto« – gemeint ist ein vornehmlich von Schwarzen bewohnter Bezirk einer amerikanischen Großstadt – bekommt einen Sohn, der im weiteren Verlauf des Songs soziale Auffälligkeiten entwickelt. Der Kindsvater ist offenbar abwesend, er wird nicht erwähnt.
    In »Billie Jean« dagegen wird Michael Jackson von einer Frau, vermutlich einem Fan, beschuldigt, der Vater ihres Sohnes zu sein. Er selbst bestreitet dies lebhaft. Der Song wurzelt, nach Jacksons eigenen Angaben, in einer autobiografischen Begebenheit.
    »Billie Jean lieb ich nicht mehr,
obwohl sie denkt, dass es so wär.
Ihr Sohn ist wirklich nicht von mir!
Das Schulgeld ist jetzt Billies Bier.«
    Aber wie verhält es sich wirklich? Tatsächlich lässt der Song die Frage der Vaterschaft offen, wie folgender Abschnitt belegt.
    »Wir haben getanzt bis morgens um drei,
dann hörten wir nervendes Babygeschrei.
Ey, das Baby sieht tatsächlich voll aus wie ich,
vorm Familiengericht wird das kniffelig.
Die Leute sagen immer, pass bloß auf, was du tust,
du hast mit zu vielen Girls rumgeschmust.«
    Die Apotheose des Songs besteht in der Zeile »Billie Jean, die lieb ich nicht«, die etwa ein Dutzend Mal wiederholt wird. Bei Presley beginnt es so:
    »Während Schnee weht,
an einem kalten, grauen Chicagomorgen,
hat eine arme schwarze Mutter reichlich Sorgen
in dem Ghetto.«
    Und weiter:
    »Seine Mutti weint.
Denn wenn’s etwas gibt, was sie nicht brauchen kann, dann einen weiteren hungrigen kleinen Mann in dem Ghetto.
Freunde, begreift ihr denn nicht?
Dieser Junge, der braucht Trost und Licht,
oder er steckt eines Tages eure Autos an.«
Es kommt, wie es kommen muss:
»Eines Nachts, voller Verzweiflung,
macht er’s in Kreuzberg wahr:
Er sieht ’nen Benz, steckt ihn an, haut schnell ab,
doch es sind Bullen da.
Und die Mutti weint…«
    Auf der einen Seite, bei Michael Jackson, ein Vater, der seine Verantwortung leugnet und sich davonmacht. Auf der anderen Seite, bei Elvis, eine Alleinerziehende im Ghetto und der ihr entglittene Heranwachsende, dessen Gefängniskarriere beginnt. Beide Songs können, ja müssen zusammen gelesen werden, sie beschreiben eine zeitliche Abfolge.
    Mit anderen Worten, Michael Jackson hat in »Billie Jean« das fehlende erste Kapitel zu »In the Ghetto« geschrieben, in der Sprache der Filmindustrie ein Prequel. Die Mutter, die bei Presley das Schicksal ihres Kind beweint, ist niemand anderes als Billie Jean.
    Dies muss vor dem Hintergrund der Tatsache gesehen werden, dass Jackson eine tiefe Abneigung gegen seinen als lieblos erlebten Vater empfand und sich als Nachfolger und künstlerischen Sohn von Elvis sah, dessen Tochter er heiratete und dessen Ende seinem eigenen Ende ähnelte. In »Billie Jean« findet die Verschmelzung statt. Vater Elvis und Sohn Michael Jackson zeugen gleichsam gemeinsam einen Sohn oder einen Enkel, dem sie sich aber sofort wieder entziehen – weil sie selber, in Neverland und in Graceland, nicht in der Lage sind, erwachsen zu werden: »This happened much too soon«, es war einfach zu früh, heißt es in »Billie Jean«.

Über Moderieren
    Ich sollte eine zweistündige Radiosendung moderieren, über Literatur. Es ging um genau neun Bücher. Einige der Autoren waren mir unbekannt, zum Beispiel Hermann Harry Schmitz und Stephen Butler Leacock. Ich habe mich tagelang vorbereitet. Fragen Sie mich bitte mal was über Hermann Harry Schmitz! Ich weiß alles. 1880 bis 1913. Ich kann, wenn Sie mich nachts wecken, spontan ein Referat über die Nachtseite von Stephen Butler Leacock halten. Gegner des Frauenwahlrechts. Ich weiß sogar, aus dem Kopf, mit wie viel Promille der Dramatiker Werner Schwab im Jahr 1994 tot aufgefunden wurde: 4,1.
    Die Radioleute sagten, ich solle unter allen Umständen zweimal pro Stunde den Namen des Hauptsenders nennen, einmal pro Stunde die acht Namen der angeschlossenen Nebensender, einmal den vollständigen Namen der Sendung, dazu den Namen der Band, die in den Pausen musizierte, die Namen der
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