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Anonyme Untote - Eine Zombie-Liebesgeschichte

Anonyme Untote - Eine Zombie-Liebesgeschichte

Titel: Anonyme Untote - Eine Zombie-Liebesgeschichte
Autoren: S G Browne
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persönlichen Gefallen tut. Falls man das doppelte Stundenhonorar als Gefallen bezeichnen kann.
    Seit sechs Wochen treffe ich mich jetzt mit Ted. Ein paar andere Mitglieder aus der Gruppe sind ebenfalls einmal oder häufiger bei ihm gewesen, doch ich bin der Einzige, der ihn regelmäßig sieht. Naomi war nur einmal bei ihm und meinte, dass sie aus der Sitzung nichts mitgenommen habe, was sie nicht auch aus Oprah Winfreys Talkshow erfahren würde. Tom ist dreimal bei ihm gewesen, hat jedoch seine beiden letzten Termine abgesagt, weil sie sich mit den Meisterschaftsspielen zwischen den Giants und den Cubs überschnitten. Weder Carl noch Jerry glauben, dass sie eine Therapie nötig haben. Und Rita ist noch nicht so weit, sich jemandem außerhalb der Gruppe anzuvertrauen.
    Ich finde nicht, dass mich die Termine bei Ted wirklich weiterbringen, falls überhaupt, aber so komme ich an zwei Abenden im Monat aus dem Haus, und mittwochs läuft sowieso nichts Anständiges im Fernsehen.
    »Wie geht es Ihnen heute, Andrew?«
    Diese Frage stellt mir Ted jedes Mal als Erstes, mit festzementiertem
Grinsen, als würde man ihn gerade fotografieren und erwarten, dass er sich darüber freut.
    Ted ist fünfundfünfzig und geht stark auf die dreißig zu. In den letzten fünf Jahren hat er sich Gesicht und Hals liften, das Kinn straffen und Muskelimplantate einsetzen lassen. Er trainiert fünfmal in der Woche im Fitnessstudio, trägt ausschließlich Klamotten von Gap und Eddie Bauer und hat dichtes Haar, das er dunkelbraun färbt, weil es allmählich grau wird. Außerdem hat er in seinem linken Ohr einen großen vierundzwanzigkarätigen Goldring, den er sich zu seinem fünfzigsten Geburtstag hat stechen lassen.
    Das meiste weiß ich, weil Ted mir in den letzten fünf Sitzungen alles über sich erzählt hat. Offensichtlich fühlt er sich in meiner Gegenwart wohl. Oder er glaubt, dass einer von uns beiden das Reden übernehmen muss.
    Er starrt mich immer noch mit seinem falschen Plastikgrinsen an und wartet darauf, dass ich seine Frage beantworte. Ich kritzle das Wort toll auf meine Tafel, die in meinem Schoß liegt und gegen meine angewinkelten Knie lehnt. Ted sitzt rechts, direkt hinter mir, damit er meine Antworten lesen kann. Ich kann ihn dabei aus den Augenwinkeln beobachten. Selbst nach sechs Wochen ertappe ich ihn dabei, wie er mich angafft.
    »Entdecke ich da einen leisen Anflug von Sarkasmus?«, fragt Ted.
    Ich kritzle Finden Sie? unter meine erste Antwort.
    In der Ecke über uns bläst ein Lufterfrischer mit Zeitschaltuhr zischend etwas Lavendelduft ins Zimmer. Bei meinem ersten Besuch hing er noch nicht da.
    »Warum sagen Sie mir also nicht, wie es Ihnen wirklich geht?«

    Ich werfe einen Blick über die Schulter, Richtung Ted. Er lächelt mich verkrampft an. Diesmal ohne Zähne.
    Wie es mir wirklich geht? Von den Eltern zurückgewiesen, von den Freunden im Stich gelassen, diskriminiert von einer Gesellschaft, in deren Augen ich kein menschliches Wesen mehr bin. So geht es mir.
    Aber das kann ich Ted nicht erzählen. Er würde das nicht verstehen. Und selbst wenn, wäre es ihm egal. Also wische ich meine Tafel ab und kritzle folgende Wörter hin:
    Verabscheut.
    »Gut«, sagte Ted. »Was noch?«
    Ausrangiert.
    »Ja«, sagt er. »Ist das alles?«
    Frustriert.
    Niedergeschlagen.
    Verlassen.
    Unruhig.
    Überflüssig.
    Ich zögere einen Moment, dann wische ich alles fort und kritzle das Wort müde hin.
    Ich warte auf eine Antwort, ernte aber nichts weiter als Schweigen.
    Ich weiß, dass Ted sich nicht davongeschlichen hat, denn ich kann ihn über meine Schulter hinweg sehen. Ich weiß, dass er nicht eingenickt ist, denn er hat die Augen geöffnet. Und ich weiß, dass er nicht tot ist, denn ich kann ihn atmen hören.
    An der Wand über Teds gerahmten Diplomen, Zertifikaten und Urkunden hängt eine Digitaluhr, die in roten Leuchtziffern die Stunden, Minuten und Sekunden anzeigt. Ich sitze da und sehe dabei zu, wie sich die Stille mit jeder Sekunde mehr in die Länge zieht.

    … dreizehn … vierzehn … fünfzehn …
    Das passiert bei jeder Sitzung. Ted hockt da, ohne die leiseste Ahnung, wie er mir helfen soll, und ich schaue dabei zu, wie monochrom die Sekunden verstreichen. Als würde man an Silvester die Uhr runterzählen, nur umgekehrt.
    … fünfundzwanzig … sechsundzwanzig … siebenundzwanzig …
    »Wenn Sie müde sagen«, fragt Ted, »meinen Sie das körperlich, emotional oder spirituell?«

KAPITEL 6
    Rita, Helen, Jerry und
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