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Anne in Avonlea

Anne in Avonlea

Titel: Anne in Avonlea
Autoren: Lucy Maud Montgomery
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aufsprang und laut rief: »Du meine Güte, da ist ja wieder das hübsche Mädchen«, oder etwas ähnlich Schmeichelhaftes. Aber Ginger durchschaute das Spiel und strafte es mit Verachtung. Anne wusste nicht, wie viele Komplimente ihr Mr Harrison hinter ihrem Rücken machte. Offen vor ihr machte er ihr nie welche.
    »Schätzungsweise waren Sie im Wald und haben sich für morgen mit einem Vorrat an Stöcken eingedeckt?«, begrüßte er sie, als Anne die Stufen der Veranda heraufkam.
    »Nein, also wirklich«, sagte Anne entrüstet. Sie war eine ausgezeichnete Zielscheibe für Sticheleien, weil sie immer alles so ernst nahm. »Bei mir wird es niemals einen Stock geben, Mr Harrison. Außer natürlich einem Zeigestock, aber den werde ich ausschließlich zum Zeigen benutzen.«
    »Sie wollen sie stattdessen mit einem Riemen züchtigen? Na, ich weiß nicht, aber vielleicht haben Sie Recht. Ein Stock tut anfangs sehr weh, dafür hält ein Riemen länger vor, das stimmt.«
    »Ich werde keinen Riemen oder so was verwenden. Ich werde meine Schüler nicht schlagen.«
    »Du meine Güte«, rief Mr Harrison erstaunt, »wie wollen Sie dann für Ruhe und Ordnung sorgen?«
    »Durch Zuwendung, Mr Harrison.«
    »Das klappt nicht«, sagte Mr Harrison, »nie und nimmer, Anne. >Wenn du die Rute schonst, verdirbst du das Kind.< Als ich zur Schule ging, bekam ich regelmäßig jeden Tag meine Tracht Prügel vom Lehrer, weil er der Ansicht war, wenn ich nicht schon etwas angestellt hätte, dann wäre ich gerade dabei, etwas auszuhecken.«
    »Die Methoden haben sich seit Ihrer Schulzeit geändert, Mr Harrison.«
    »Aber nicht die menschliche Natur. Denken Sie an meine Worte, Sie werden nie mit den Früchtchen zurechtkommen, wenn Sie nicht einen Stock in der Hinterhand haben. Ausgeschlossen.«
    »Hm, ich werde es zunächst einmal so versuchen«, sagte Anne, die einen wirklich starken Willen hatte und stets hartnäckig an ihren Theorien festhielt.
    »Sie sind ganz schön halsstarrig«, meinte Mr Harrison dazu. »Gut, gut, wir werden sehen. Eines Tages, wenn Sie gereizt sind - und Leute mit roten Haaren lassen sich furchtbar leicht reizen werden Sie all Ihre netten kleinen Vorstellungen vergessen und einem eine gehörige Tracht verpassen. Für eine Lehrerin sind Sie sowieso noch viel zu jung . .. viel zu jung und zu kindisch.«
    Alles in allem ging Anne an dem Abend ziemlich pessimistisch ins Bett. Sie schlief schlecht und war am nächsten Morgen beim Frühstück blass und still. Marilla war ganz besorgt und bestand darauf, ihr eine Tasse starken Ingwertee aufzubrühen. Anne nippte ihn geduldig, obwohl sie sich nicht vorstellen konnte, dass Ingwertee einem gut tun konnte. Wäre es irgendein Zaubertrank gewesen, der einem Alter und Weisheit verlieh, dann hätte Anne, ohne mit der Wimper zu zucken, glatt einen Liter davon getrunken.
    »Marilla, und wenn ich versage?«
    »An einem einzigen Tag auf ganzer Linie versagen, das geht gar nicht. Und es kommen noch so viele andere Tage«, sagte Marilla. »Dein Problem ist, dass du den Kindern auf einen Schlag alles beibringen und all ihre Schwächen ausmerzen willst. Und wenn dir das nicht gelingt, denkst du, du hättest versagt.«

05 - Die Lehrerin in Amt und Würden
    Als Anne in die Schule kam - es war das erste Mal gewesen, dass sie taub und blind für seine Schönheit den Birkenpfad entlanggegangen war waren alle still und friedlich. Die frühere Lehrerin hatte den Kindern eingetrichtert, bei Annes Eintreffen auf ihren Plätzen zu sitzen. Als sie den Klassenraum betrat, sah sie sich geordneten Reihen von strahlenden »Guten-Morgen-Gesichtern« gegenüber und wachen, wissbegierigen Augen. Sie hängte den Hut an den Haken, schaute ihre Schüler an und hoffte, dass sie nicht so verschüchtert und dämlich dreinsah, wie sie sich fühlte, und dass sie ihr nicht anmerkten, wie sie zitterte.
    Am Vorabend hatte sie fast bis Mitternacht über einer Rede gesessen, die sie den Schülern zum Schulanfang halten wollte. Sie hatte sie sorgfältig überarbeitet, verbessert und sie dann auswendig gelernt. Es war eine ausgezeichnete Ansprache mit ein paar glänzenden Gedanken, vor allem in puncto gegenseitiger Hilfe und dem ernsthaften Bemühen, etwas dazuzulernen. Das Dumme war nur, dass sie sich jetzt an kein einziges Wort mehr erinnern konnte.
    Nach einer Weile, die ihr wie ein Jahr vorkam - in Wirklichkeit waren es nur zehn Sekunden -, sagte sie schwach: »Nehmt bitte die Bibeln zur Hand«, und sank unter dem dann
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