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Anne in Avonlea

Anne in Avonlea

Titel: Anne in Avonlea
Autoren: Lucy Maud Montgomery
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Jane. »Meinst du nicht auch, dass manchen Kindern ab und zu eine Tracht Prügel ganz gut tut?«
    »Findest du es nicht grausam, unmenschlich, ein Kind zu verprügeln . . . auch nur eines?«, rief Anne mit vor Eifer glühendem Gesicht.
    »Naja«, sagte Gilbert bedächtig, hin und her gerissen zwischen seiner echten Überzeugung und dem Wunsch, Annes Ideal zu erfüllen, »dazu gibt es zweierlei zu sagen. Ich halte nichts davon, Kinder zu schlagen. Ich meine genau wie du, Anne, dass es in der Regel bessere Methoden gibt und die Prügelstrafe der letzte Ausweg sein sollte. Aber andererseits glaube ich, genau wie Jane, dass es Kinder gibt, die sich durch nichts anderes beeindrucken lassen und ab und zu eine Tracht Prügel brauchen, um sich zu bessern. Die Prügelstrafe als letzte Handhabe - das habe ich mir zur Regel gemacht.«
    Gilbert hatte damit beide zufriedenstellen wollen und verfehlte sein Ziel, indem er keiner von beiden Recht gab.
    Jane schüttelte den Kopf.
    Anne warf Gilbert einen enttäuschten Blick zu.
    »Ich werde niemals ein Kind schlagen«, wiederholte sie fest. »Ich halte es weder für richtig noch für nötig.«
    »Angenommen, ein Junge wird unverschämt, nachdem du ihm etwas aufgetragen hast?«, sagte Jane.
    »Ich würde ihn nach der Schule zu mir rufen und freundlich, aber entschieden zur Rede stellen«, sagte Anne. »In jedem Menschen steckt etwas Gutes, wenn man es nur finden will. Die Aufgabe eines Lehrers ist es, es zu entdecken und zu fördern. Genau das hat uns unser Professor in Schulkunde in Queen’s gelehrt, wie du selbst weißt. Glaubst du etwa, das Gute in einem Kind mittels Prügel entdecken zu können? Viel wichtiger ist doch, die Kinder positiv zu beeinflussen und ihnen nicht nur das Lesen, Schreiben und Rechnen beizubringen, wie Professor Rennie sagt.«
    »Aber der Schulinspektor prüft die Kinder im Lesen, Schreiben und Rechnen. Vergiss das nicht! Du schneidest schlecht ab, wenn sie seinen Anforderungen nicht genügen«, wandte Jane ein.
    »Mir ist es lieber, meine Schüler mögen mich und sehen in mir auch Jahre später noch jemand, der ihnen wirklich weitergeholfen hat, statt dass ich auf der Ehrenliste stehe«, sagte Anne entschieden. »Würdest du ungezogene Kinder gar nicht bestrafen?«, fragte Gilbert. »Tja, das werde ich wohl müssen, auch wenn es mir nicht passt. Aber man kann sie in der Pause in der Klasse behalten, sie auf den Flur schicken oder ihnen eine Strafarbeit aufgeben.«
    »Du willst die Mädchen doch nicht bestrafen, indem du sie neben die Jungen setzt?«, fragte Jane schelmisch.
    Gilbert und Anne sahen einander mit einem ziemlich verschämten Lächeln an. Ein einziges Mal war Anne zur Strafe neben Gilbert gesetzt worden und das hatte traurige und bittere Konsequenzen nach sich gezogen.
    »Nun, die Zeit wird zeigen, welches der bessere Weg ist«, sagte Jane unverbindlich, als sie sich trennten.
    Anne ging den schattigen, von Blätterrascheln erfüllten und nach Farn duftenden Birkenpfad zurück nach Green Gables, durchs Veilchental, an Willowmere vorbei, durch Licht und Schatten unter den Tannen und die Liebeslaube hinunter - Stellen, denen Diana und sie vor langer Zeit diese Namen gegeben hatten. Sie ging gemächlich und genoss den süßen Duft nach Holz und Feldern und den sternenübersäten Sommerabendhimmel. Sie dachte nüchtern über ihre neue Aufgabe nach, die sie am nächsten Tag erwartete. Als sie den Hof von Green Gables erreichte, drang Mrs Lyndes laute, bestimmte Stimme durch das offene Küchenfenster.
    »Mrs Lynde ist vorbeigeschneit, um mir für morgen gute Ratschläge mit auf den Weg zu geben«, dachte Anne und verzog das Gesicht. »Aber ich gehe nicht ins Haus. Mit ihrem Rat verhält es sich wie mit Pfeffer ... in kleinen Mengen ausgezeichnet, aber in Mrs Lyndes Dosierung einfach unerträglich. Ich laufe lieber schnell auf einen Plausch hinüber zu Mr Harrison.«
    Dies war seit der denkwürdigen Geschichte mit der Kuh nicht das erste Mal, dass sie auf einen Sprung bei Mr Harrison vorbeischaute und mit ihm ein Schwätzchen hielt. Sie war schon öfter abends dort gewesen. Mr Harrison und sie verstanden sich wirklich gut, obwohl Anne seine unverblümte Art, auf die er auch noch stolz war, manchmal ziemlich anstrengend fand. Ginger beäugte sie noch immer argwöhnisch und versäumte nie, sie höhnisch mit »Karotte« zu begrüßen. Mr Harrison hatte sich vergebens bemüht es ihm auszutreiben, indem er jedes Mal, wenn er Anne kommen sah, aufgeregt
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