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Anne in Avonlea

Anne in Avonlea

Titel: Anne in Avonlea
Autoren: Lucy Maud Montgomery
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verhungern, würde er nicht sonntags nach Hause gehen und sich dort anständig satt essen und würde seine Mutter ihm nicht jeden Montagmorgen einen Korb mit »Fressalien« mitgeben.
    Den Abwasch erledigte Mr Harrison stets erst dann, wenn ein regnerischer Sonntag war. Dann machte er sich ans Werk, spülte das gesamte Geschirr im Regenfass und ließ es zum Trocknen stehen. Obendrein war Mr Harrison »geizig«. Als er um einen Beitrag zu Pfarrer Allans Gehalt gebeten wurde, sagte er, er wolle zuerst abwarten und sehen, für wie viele Dollars er einen Gegenwert aus seinen Predigten herausbekäme - er kaufe keine Katze im Sack. Als Mrs Lynde ihn aufsuchte und um eine Spende für die Missionsarbeit bat - und um sich nebenbei im Haus umzusehen -, sagte er, unter den Klatschweibern von Avonlea gäbe es mehr Heiden als irgendwo sonst und er würde liebend gern eine Spende zu deren Christianisierung leisten, wenn sie das in Angriff nähme. Mrs Rachel machte sich davon und erzählte allen, was für ein Segen es sei, dass die arme Mrs Robert Bell im Grabe ruhte. Es hätte ihr das Herz gebrochen, wenn sie das Haus in dem Zustand gesehen hätte, wo es doch immer ihr ganzer Stolz gewesen sei.
    »Da hat sie nun jeden zweiten Tag den Küchenfußboden geschrubbt«, sagte Mrs Lynde entrüstet zu Marilla Cuthbert, »und jetzt müsstest du ihn dir mal ansehen! Ich musste meinen Rock anheben, als ich durch die Küche ging.«
    Zu allem Überfluss hielt Mr Harrison einen Papagei namens Ginger. Das hatte es in Avonlea noch nie gegeben. Wenn man John Henry Carter glauben konnte, dann hatte es noch nie auf der Welt einen so unflätigen Vogel gegeben. Er fluchte entsetzlich. Mrs Carter hätte John Henry sofort aus seiner Stellung genommen, hätte sie eine neue für ihn gewusst. Außerdem hatte Ginger John Henry in den Nacken gebissen, als der sich einmal zu dicht an den Käfig gebeugt hatte. Mrs Carter zeigte jedem die Narbe, wenn der unglückliche John Henry auf Sonntagsbesuch war.
    All das schoss Anne durch den Kopf, als Mr Harrison sprachlos vor Zorn vor ihr stand. Selbst wenn er freundlich dreinsah, war Mr Harrison nicht gerade ein ansehnlicher Mensch; er war klein, dick und kahlköpfig. Aber jetzt, da sein rundes Gesicht rot vor Wut war und seine vorstehenden blauen Augen förmlich aus dem Kopf traten, fand Anne, dass er wirklich der hässlichste Mensch war, den sie je gesehen hatte. Plötzlich fand Mr Harrison die Sprache wieder.
    »Das lasse ich mir nicht bieten«, stieß er hervor, »nicht einen Tag länger, haben Sie verstanden. Miss? Verdammt, dies ist das dritte Mal, Miss, das dritte Mal! Meine Geduld ist am Ende, Miss. Ich habe Ihre Tante das letzte Mal gewarnt. Dass mir das nicht wieder vorkommt, habe ich gesagt. Und sie lässt sie ... sie hat sie ... Wie stellt sie sich das vor, frage ich. Deswegen bin ich hier, Miss.«
    »Würden Sie mir erklären, was Sie so ärgert?«, fragte Anne sehr würdevoll. Sie hatte das in letzter Zeit oft geübt, damit es klappte, wenn die Schule begann. Aber es beeindruckte den wütenden J. A. Harrison überhaupt nicht.
    »Was mich ärgert? Das kann ich Ihnen sagen. Der Ärger ist, Miss, dass wieder diese Jerseykuh Ihrer Tante in meinem Hafer war, ist keine halbe Stunde her. Das dritte Mal, stellen Sie sich das vor. Sie war letzten Dienstag da drin und sie war gestern da drin. Ich war hier und hab Ihrer Tante gesagt, dass mir das nicht noch mal vorkommt. Und jetzt.. .Wo ist Ihre Tante, Miss? Ich will ihr nur gründlich meine Meinung sagen - J. A. Harrisons Meinung, Miss.«
    »Wenn Sie Miss Manila Cuthbert meinen, sie ist nicht meine Tante und sie besucht eine entfernte Verwandte in East Grafton, die schwer krank ist«, sagte Anne und betonte jedes Wort mit noch größerer Würde. »Es tut mir Leid, wenn meine Kuh in Ihr Haferfeld eingebrochen ist. Es ist nämlich meine Kuh, nicht Miss Cuthberts. Matthew hat sie mir vor drei Jahren geschenkt, als sie noch ein kleines Kalb war. Er hat sie von Mr Bell gekauft.«
    »Tut Ihnen Leid, Miss, tut Ihnen leid, das ändert gar nichts. Sie sollten sich besser die Verwüstung ansehen, die dieses Tier auf meinem Haferfeld angerichtet hat . . . von vorn bis hinten niedergetrampelt, Miss.«
    »Es tut mir sehr Leid«, wiederholte Anne fest, »aber wenn Sie Ihre Zäune besser instand hielten, wäre Dolly vielleicht nicht eingebrochen. Es ist Ihr Zaun, der Ihr Haferfeld von unserer Weide trennt, und mir ist neulich aufgefallen, dass er nicht in allerbestem Zustand
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