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Anne in Avonlea

Anne in Avonlea

Titel: Anne in Avonlea
Autoren: Lucy Maud Montgomery
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folgenden Rascheln und dem Klappern von Pultdeckeln atemlos in ihren Stuhl. Während die Kinder Verse lasen, ordnete Anne ihre fünf Sinne wieder und ließ ihren Blick von den kleinen zu den größeren Schülern wandern.
    Die meisten kannte sie natürlich ganz gut. Ihre eigenen Klassenkameraden hatten im letzten Schuljahr die Schule verlassen, aber alle anderen kannte sie, bis auf die Erstklässler und zehn in Avonlea Neu zugezogene. Anne war insgeheim gespannter auf diese zehn Neuen, weil sie über die Fähigkeiten der anderen schon halbwegs im Bilde war. Sicher, vielleicht waren sie genauso durchschnittlich wie die Übrigen, aber vielleicht war ja doch ein Genie darunter. Dies war ein aufregender Gedanke.
    Allein an einem Ecktisch saß Anthony Pye. Er machte ein finsteres, mürrisches Gesicht und sah Anne aus seinen dunklen Augen böse an. Anne beschloss sofort, dass sie die Zuneigung dieses Jungen gewinnen musste, was die Pyes restlos verwirren würde.
    In der anderen Ecke neben Arty Sloane saß ein Neuer - ein drollig aussehendes Kerlchen mit einer Stupsnase, Sommersprossen und großen strahlend blauen Augen mit hellen Wimpern - vermutlich der kleine Donnell. Und wenn es so etwas wie Familienähnlichkeit gab, dann musste das drüben in der anderen Reihe neben Mary Bell seine Schwester sein. Anne fragte sich, was das für eine Mutter sein musste, die sie in einem solchen Kleid zur Schule geschickt hatte. Sie trug ein verblichenes, rosafarbenes Seidenkleid mit jeder Menge Baumwollspitze, schmutzige weiße Sandalen und Seidenstrümpfe. Ihr rotblondes Haar war zu unzähligen unnatürlichen Löckchen aufgedreht und mit einer auffallenden rosafarbenen Schleife, die größer als ihr Kopf war, versehen. Sie machte jedoch einen durchaus mit sich zufriedenen Eindruck.
    Das blasse kleine Mädchen mit den weichen schulterlangen Locken aus feinem, seidigem, hellbraunem Haar musste Annetta Bell sein, deren Eitern früher im Einzugsbereich der Newbridge-Schule gewohnt hatten, die aber jetzt, nachdem sie um knappe hundert Meter weiter nach Norden gezogen waren, zu Avonlea gehörten. Die drei blassen Mädchen waren bestimmt die Cottons. Und die kleine Schönheit mit den langen braunen Haaren und den haselnussbraunen Augen, die über ihre Bibel hinweg Jack Gillis kokette Blicke zuwarf, musste Prillie Rogerson sein, deren Vater vor kurzem zum zweiten Mal geheiratet hatte und Prillie von der Großmutter in Grafton zu sich nach Hause geholt hatte. Das große linkische Mädchen auf einem der hinteren Plätze, das nicht wusste, wohin mit seinen Füßen und Händen, konnte Anne überhaupt nicht zuordnen. Später stellte sich heraus, dass es sich um Barbara Shaw handelte, die nun bei einer Tante in Avonlea wohnte. Außerdem fand sie heraus, dass, wenn Barbara es je fertig brachte, den Gang entlangzugehen, ohne über ihre eigenen oder anderer Leute Füße zu stolpern, ihre Mitschüler diese ungewöhnliche Tatsache an der Tafel auf der Schulveranda festhielten.
    Als sich Annes Blicke mit denen des Jungen vorn in der ersten Reihe trafen, durchfuhr sie ein seltsamer kleiner Schauer, so als hätte sie ihr Genie entdeckt. Das musste Paul Irving sein. Mrs Rachel Lynde hatte zumindest dieses eine Mal Recht gehabt, als sie prophezeite, dass er anders wäre als die Kinder aus Avonlea. Ja, mehr noch, bemerkte Anne, dass er überhaupt ganz anders war als andere Kinder und dass da eine ihr verwandte Seele sie aus dunklen blauen Augen unverwandt musterte.
    Sie wusste, dass Paul zehn Jahre alt war, aber er sah höchstens nach acht aus. Er hatte das schönste Gesicht, das sie je bei einem Kind gesehen hatte. Seine Gesichtszüge waren von ausgesprochener Feinheit und Vollkommenheit, umrahmt von kastanienbraunen Locken. Sein Mund war ebenmäßig, die roten Lippen waren groß, berührten einander nur leicht und formten sich zu fein vollendeten Mundwinkeln, wo sich winzige Grübchen bildeten. Er machte einen ruhigen, ernsten und nachdenklichen Eindruck, so als wäre er vom Verstand her seiner körperlichen Entwicklung weit voraus. Aber als Anne ihm leicht zulächelte, verwandelte sich dieser Ausdruck unvermittelt in ein Lachen, das regelrecht wie eine Erleuchtung seines ganzen Wesens wirkte, so als wäre in ihm plötzlich ein Licht entzündet worden und ließe ihn von Kopf bis Fuß erstrahlen. Das Schönste daran war, dass es unwillkürlich geschah und nicht gesteuert war; es war wie das Aufblitzen einer verborgenen Persönlichkeit, eines seltenen, schönen
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