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Annas Erbe

Annas Erbe

Titel: Annas Erbe
Autoren: Horst Eckert
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Wintertages. Die anderen fuhren fort, im Müll zu graben. Nun setzte auch noch Regen ein.
    Thann besah sich das, was der Müllarbeiter zuerst entdeckt hatte. Der Ort war mit einem Schild markiert. Nummer eins. Ein Kribbeln lief durch Thanns Körper. Der Regen lief ihm in den Kragen.
    Blond und männlich, vermutete Thann. Sicher war er keineswegs. Die Haare und ein Teil des Gesichts waren verklebt mit schwarzem, geronnenem Blut. Das Kinn war rot angelaufen, die Haut an den Wangen und auf der Stirn mehrfach geschwollen und geplatzt. Die vorderen Zähne waren eingeschlagen, die linke Schädelseite zertrümmert. In seiner Vorstellung sah Thann eine Eisenstange oder einen Baseballschläger, mit Wucht geführt von einem Rechtshänder, der vor seinem Gegner stand, ausholte, den tödlichen Schlag gegen dessen Kopf setzte und, als dieser zu Boden ging, ein zweites Mal zuschlug und dabei die untere Gesichtshälfte traf.
    In der Höhe des Kehlkopfes war der Hals abgetrennt. Wie das geschehen war, ging über Thanns Vorstellungskraft.
    Um den Kopf hatte ein Kriminaltechniker die Markierung aus Kalk gestreut. Ein weißer Ring, der diesen menschlichen Überrest auf fast mystische Weise hervorhob. Thann stand wie gelähmt. Er vergaß Regen, Kälte und Gestank.
    Gar nicht tot wirkten die Augen, die Thann entgegenstarrten. Das rechte war rot, blutunterlaufen und von einem roten Bluterguss umrahmt, der aussah wie ein Monokel. Das andere Auge war unversehrt. Beide fixierten ihn, als wollten sie ihn ansprechen, auf etwas aufmerksam machen. Wie ein letzter, verzweifelter Hilferuf des Opfers, persönlich an Thann gerichtet. Es dauerte eine ganze Weile, bis er sich bewusst wurde, dass er nur zufällig in die Blickrichtung der toten Pupillen geraten war, und auch dann schaffte er es nicht sofort, sich abzuwenden.
    Es war das erste Mal, dass er als leitender Ermittler am Fundort einer Leiche stand, sein erster Mord. Thann schwor, diese Chance zu nutzen, der gesamten Kripo zu beweisen, was in ihm steckte. Der Spott sollte ihnen vergehen. Die Stiche im Magen nahmen an Heftigkeit zu.
    Ein Kollege trat neben Thann. Er hatte die Hand in einer großen, transparenten Tüte, packte den Kopf bei den Haaren und stülpte beim Hochheben die Tüte über das Fundstück. Kaum mehr als eine flinke Handbewegung, ohne das Leichenteil direkt zu berühren, als hätte der Beamte Routine darin. In diesem Moment blitzte es, eine Kamera surrte kurz, es blitzte noch einmal. Thann fuhr herum. Das war nicht der Polizeifotograf. Es blitzte ein drittes Mal. Für einige Sekunden war Thann geblendet.
    »WER SIND SIE? WIE KOMMEN SIE HIERHER?«, schrie er ins Weiße und ballte die Fäuste.
    »Presse«, antwortete der Fotograf und wedelte mit einer Art Ausweis. Sein Grinsen zeigte eine Zahnlücke. Über dem Pullover trug er eine kakifarbene Weste mit Dutzenden kleiner Taschen. Auf seiner Schirmmütze stand BLITZ.
    Thann hätte ihn am liebsten in den Müll gestoßen. Eine Ader begann auf seiner Stirn zu tanzen. »Blutpresse. Die Schlagzeile größer als das Hirn der Verfasser. Euch hab' ich gern!«
    Das Auto des Fotografen stand gleich neben ihrem Zivilwagen. Eine weiße Limousine mit Funktelefon und dem Namen der Zeitung auf der Tür.
    Der Fotograf grinste noch immer. Thann packte ihn bei der Weste und schüttelte ihn. »Unerlaubtes Abhören des Polizeifunks und Behinderung der Ermittlungen!« Er bellte Schneider und Dalla an: »Stellt seine Personalien fest und überprüft sein Autoradio!«
    Fast gleichzeitig ertönten die Rufe zweier Beamter. Nicht weit voneinander entfernt hatten sie die letzten noch fehlenden Teile der Leiche entdeckt. Der Polizeifotograf stieß weitere Schilder in den weichen Grund, die anderen Beamten beendeten ihre Grabungen. Kollegen in schwarzer Lederjacke oder grünem Parka näherten sich Thann. Sie stapften durch den weichen Morast, vermummt mit Mullbinden und Anorakkapuzen und mit Harken und Schaufeln bewaffnet.
    Dalla kam vom Presseauto zurück. »Das Radio ist in Ordnung!«
    »Ich glaube, wir müssen ihn laufen lassen, Chef«, sagte Schneider.
    Thann ignorierte ihn und besah sich den Presseausweis. Udo Korfmacher, 30 Jahre alt. Der Fotograf ließ erneut seine Zahnlücke sehen, als Thann den Ausweis zurückgab.
    Thann war machtlos. »Verschwinden Sie jetzt! Aber schnell!«
    Er wandte sich an den Zugführer und die anderen umstehenden Beamten. »Die Suche wird fortgesetzt.« Murren und Flüche. »Achten Sie auf blutige Kleidungsstücke und
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