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Anna Marx 9: Feuer bitte

Anna Marx 9: Feuer bitte

Titel: Anna Marx 9: Feuer bitte
Autoren: Christine Grän
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machte, ob die Sitze um Millimeter verstellt sind. Anna ist nicht abgestürzt, obwohl sie so oft davon träumt. Sie steht jetzt nur im Regen, sozusagen, und überlegt, wie es weitergehen soll.
    Zigarettenpause! Anna lacht über diesen Einfall und geht in die Küche zum Kühlschrank. Er ist neu und schön, doch so leer wie ihr Magen. Saure Milch, verschimmeltes Brot, hundertjährige Eier: Sie schließt angewidert die Tür und öffnet den Küchenschrank, in dem sie eine Dose Chilibohnen findet. Im »Mondscheintarif« ist heute Ruhetag; seit sie Mutter ist, hat Sibylle die Siebentagearbeitswoche abgeschafft und arbeitet mehr als je zuvor. Wenn es Archibald nicht gäbe, würde Anna sie besuchen, doch sie ist nicht in der Verfassung, dem Neuen gegenüberzutreten. Also löffelt sie Bohnen aus der Dose, nach den Waffeln ist es ihre zweite Mahlzeit in zwei Tagen, und sie fühlt sich immer noch als Hungerkünstlerin. Anna hat Visionen einer dünnen Ausgabe ihrer selbst – und könnte sich darin verlieben. Weil doch ihre Seele immer schlank war, sie hat sie nur selten beachtet.
    Die umsichtige Putzfrau hat das Telefon mit einer Plastiktüte abgedeckt. Anna entfernt sie und hört den Anrufbeantworter ab. Sibylles Stimme und die von Eva Mauz sagen ihr längst Überholtes, wer will schlechte Nachrichten schon zweimal empfangen? Die Kommissarin bittet um Rückruf, nein, sie fordert ihn. Fjodor erzählt mit bebender Stimme, dass ein Wasserrohr explodiert sei und er keine Ahnung habe, was zu tun sei. Etwa die Feuerwehr anrufen? »Die Flut kommt«, sind seine letzten Worte, dann legte er auf. Zwei Anrufe ohne Ansage, Leute, die Anrufbeantworter nicht besprechen, sind irritierend, wie Telefongespenster, und stets beschäftigt sie die Frage, wer es war und warum er oder sie anrief.
    Auf dem Tisch liegen Rechnungen, die Putzfrau hat den Briefkasten geleert. Sibylle besitzt von allem Zweitschlüssel, und Anna müsste ihr dankbar sein, dass sie sich um die Wohnung gekümmert hat. Morgen, denkt sie, werde ich mit meinem letzten Geld einen Blumenstrauß kaufen und Archie besichtigen. Ich werde nett zu ihm sein und Sibylle darin bestätigen, dass sie das Richtige tut. Ich werde Wanda Kroll anrufen und zu guter Letzt Eva Mauz, der sie einen Scheck entreißen muss, zumindest ein Ausfallhonorar, das der einen nicht wehtut und die andere tröstet. Bleiben Einkäufe, der schwere Gang zur Bank und der Versuch, Alicia telefonisch zu erreichen – alles morgen. Heute wird sie ins Bett gehen und Erich Fried lesen. Gedichte sind traumwandelnde Worte und wunderbare Schlafmittel.
    Anna durchstöbert die Post und öffnet einen Anwaltsbrief. Martins Anwälte teilen ihr mit, dass die Beisetzung in der kommenden Woche stattfindet. Keine Kränze, sondern eine Spende an Amnesty, und im Anschluss an die Trauerfeier gibt es einen kleinen Umtrunk.
    Es werden viele Leute kommen, die ihn geliebt und gehasst haben, denkt Anna, und dass sie Martin ohnehin keinen Kranz spendiert hätte. Feuerbestattung: Er wird schon vorab in der Hölle schmoren. Die Wahl zwischen Verbrennen und Vermodern hat Anna noch nie treffen können. Beides erscheint wenig erstrebenswert. Ob David auftaucht? Früher oder später muss er es tun, wenn er an das Erbe will. Daran klammert sie sich, weil sie es jetzt als Fehler empfindet, Brüssel verlassen zu haben. Sie hätte ihn aufgespürt, wenn sie nur lang genug das Haus beobachtet hätte. Etwas mehr Druck von ihrer Seite, und Helena wäre vielleicht eingebrochen. Anna und der Konjunktiv, das ist die ewige Geschichte ihrer Zweifel, die kurzfristige Vision der Unfehlbarkeit. Manchmal kriecht ihr Ego auf Krücken durch die Gosse, doch es gibt sie, die Zeiten, in denen sie ganz oben ist. Mohnkuchen, Waffeln, Chateau Talbot, Eric Claptons Gitarrensoli, Sex, die Zigarette danach …
    Das Pochen an ihrer Wohnungstür ist unüberhörbar und klingt bedrohlich. Sie wird zum Wrack, wenn sie nicht bald nach oben kommt. Anna geht zur Tür und öffnet sie. Keine Angst vor Einbrechern, sie hat nicht einmal durch den Spion geschaut. Fjodor steht vor ihr, wen hat sie erwartet? Er hat einen Laib Brot und Käse in den Händen, die er Anna entgegenstreckt.
    »Deine Klingel ist kaputt, und du hast sicher Hunger«, sagt er und betritt unaufgefordert die Wohnung. »Sieht doch gut aus bei dir. Meine Kemenate ist abgesoffen, und es wird Wochen dauern, bis alles eintrocknet. Zurzeit schlafe ich in der Küche der Kneipe, Sibylle hat mir ein mobiles Bett geliehen. Die
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