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Anleitung zum Unglücklichsein (German Edition)

Anleitung zum Unglücklichsein (German Edition)

Titel: Anleitung zum Unglücklichsein (German Edition)
Autoren: Paul Watzlawick
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folgende: Ankommen – womit buchstäblich wie metaphorisch das Erreichen eines Zieles gemeint ist – gilt als wichtiger Gradmesser für Erfolg, Macht, Anerkennung und Selbstachtung. Umgekehrt ist Mißerfolg oder gar tatenloses Dahinleben ein Zeichen von Dummheit, Faulheit, Verantwortungslosigkeit oder Feigheit. Der Weg zum Erfolg ist aber beschwerlich, denn erstens müßte man sich anstrengen, und zweitens kann auch die beste Anstrengung schiefgehen. Statt sich nun banal auf eine »Politik der kleinen Schritte«, auf ein überdies vernünftiges, erreichbares Ziel hin festzulegen, empfiehlt es sich, das Ziel bewunderungswürdig hoch zu setzen.
    Meinen Lesern sollten die Vorteile offensichtlich sein. Das faustische Streben, die Suche nach der Blauen Blume, der asketische Verzicht auf die niedrigeren Befriedigungen des Lebens stehen gesellschaftlich hoch im Kurs und lassen Mutterherzen noch höher schlagen. Und vor allem: Wenn das Ziel in weiter Ferne liegt, begreift auch der Dümmste, daß der Weg dorthin lang und beschwerlich und die Reisevorbereitungen umfassend und zeitraubend sind. Da soll einen nur jemand dafür tadeln, noch nicht einmal aufgebrochen zu sein – und noch weniger droht einem Kritik, wenn man, einmal unterwegs, vom Wege abkommt und im Kreis marschiert oder längere Marschpausen einlegt. Im Gegenteil, für das Verirren im Labyrinth und das Scheitern an übermenschlichen Aufgaben gibt es heroische Vorbilder, in deren Licht man dann selbst etwas mitglänzt.
    Doch das ist keineswegs alles. Mit dem Ankommen auch am hehrsten Ziel ist eine weitere Gefahr verbunden, die der gemeinsame Nenner der eingangs erwähnten Zitate ist, nämlich der Katzenjammer. Und um diese Gefahr weiß der Unglücksexperte; ob bewußt oder unbewußt, spielt dabei keine Rolle. Das noch unerreichte Ziel ist – so scheint es der Schöpfer unserer Welt zu wollen – begehrenswerter, romantischer, verklärter, als es das erreichte je sein kann. Machen wir uns doch nichts vor: Die Flitterwochen hören vorzeitig zu flittern auf; bei Ankunft in der fernen exotischen Stadt versucht uns der Taxichauffeur übers Ohr zu hauen; die erfolgreiche Ablegung der entscheidenden Prüfung bewirkt wenig mehr als das Hereinbrechen zusätzlicher, unerwarteter Komplikationen und Verantwortungen; und mit der Serenität des Lebensabends nach der Pensionierung ist es bekanntlich auch nicht so weit her.
    Quatsch, werden die Heißblütigeren unter uns sagen, wer sich mit so milden, anämischen Idealen abgibt, verdient es, am Ende enttäuscht dazustehen. Aber gibt es vielleicht nicht den leidenschaftlichen Affekt, der in seiner Entladung sich selbst übersteigert? Oder den heiligen Zorn, der zum berauschenden Akt der Rache und Vergeltung für Unrecht führt und der die Gerechtigkeit der Welt wieder ins Lot bringt? Wer könnte da noch vom »Katzenjammer« des Ankommens sprechen?
    Leider, leider – auch damit scheinen die wenigsten anzukommen. Und wer das nicht glaubt, der lese, was ein Berufener wie George Orwell zum Thema »Rache ist sauer« [13] zu sagen hat. Es handelt sich um einige Überlegungen von so tiefer Anständigkeit und versöhnlicher Weisheit, daß sie eigentlich in einem Leitfaden zur Unglücklichkeit keinen Platz verdienen. Aber der Leser wird es mir hoffentlich verzeihen, wenn ich sie dennoch erwähne – eben weil sie so gut ins obige Thema passen.
    Im Jahre 1945, in seiner Eigenschaft als Kriegsberichterstatter, besuchte Orwell unter anderem auch Lager für gefangene Kriegsverbrecher. Dabei wurde er Zeuge, wie ein junger Wiener Jude, der die Verhöre leitete, einem Häftling, der einen hohen Rang in der Politischen Abteilung der SS bekleidet hatte, einen fürchterlichen Tritt gegen dessen gequetschten und unförmig geschwollenen Fuß versetzte.
     
»Man konnte ziemlich sicher sein, daß er Konzentrationslager befehligt und Folterungen sowie Erhängungen angeordnet hatte. Kurz gesagt, er repräsentierte alles, wogegen wir in den vergangenen fünf Jahren gekämpft hatten …
Es ist absurd, einen deutschen oder österreichischen Juden dafür zu tadeln, daß er erlittenes Leid den Nazis heimzahlt. Der Himmel weiß, was für eine Rechnung dieser Mann hier zu begleichen haben mochte; höchstwahrscheinlich war seine ganze Familie ermordet worden; und letzten Endes ist selbst ein willkürlicher, harter Fußtritt für einen Gefangenen eine überaus geringe Sache, verglichen mit jenen Greueltaten, die das Hitlerregime begangen hatte.
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