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Angsthauch

Angsthauch

Titel: Angsthauch
Autoren: Julia Crouch
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hinunter zum Fluss. Das Bild eines lachenden, sonnenbesprenkelten Christos war so deutlich in ihrem Kopf, dass sie in der kühlen Nachtluft unwillkürlich die Hand nach ihm ausstreckte. Erst jetzt traf es sie mit der Wucht eines Schlages: Sie würde nie wieder seine Stimme hören, nie wieder seine Haut berühren. Sie blieb stehen und hielt den Atem an, als die schreckliche Wahrheit seines Todes in ihr Gestalt annahm. Einen kurzen Moment lang fühlte sie sich verloren, wie ausgesetzt in der Mitte der Wiese. Wenn sie sich selbst nicht ganz festhielte, dachte sie, würde sie sich auflösen.
    Dann sah sie auf, und ihr Blick fiel auf Gareths Weide. Im Mondlicht sah ihr Umriss aus wie der eines gebückten Trolls. Rose roch den Drum-Tabak und wusste, dass sie ihren Mann gefunden hatte. Das Gefühl der Orientierungslosigkeit fiel von ihr ab, sie ging die letzten Schritte bis zum Baum und schlüpfte in das geschützte Rund, das die überhängenden Zweige schufen.
    Sie setzte sich neben ihn und schwieg.
    »Christos. Ich kann’s gar nicht glauben«, sagte er mit geschlossenen Augen.
    »Ja, es ist furchtbar.«
    »Er war so …« Gareth starrte auf den Fluss, während er nach den richtigen Worten suchte. Seine Augen waren gerötet.
    »Er war dein Freund.«
    »Die Beerdigung hat schon stattgefunden, oder?«
    »Ja. Tut mir leid.«
    »Ich wäre gern dabei gewesen. Um mich von ihm zu verabschieden.«
    »Ich auch.«
    »Diese Frau hat ihn sich gekrallt und ihn nicht mehr losgelassen.«
    »Ich weiß, aber –«
    »Sie hätte uns früher Bescheid sagen müssen.«
    »Ja.« Rose legte den Arm um ihn. Der Fluss zu ihren Füßen floss langsam dahin und füllte ihr Schweigen mit dem Klang seiner Reise von den Bergen zum Meer.
    »Das ist einfach nicht der richtige Zeitpunkt«, meinte er schließlich und grub seinen Stiefel in den Uferschlamm.
    »Ich weiß«, sagte sie und nahm seine Hand.
    »Wir haben die zwei schwierigsten Jahre unseres Lebens hinter uns, und jetzt, wo sich gerade alles wieder ein bisschen beruhigt hat und wir endlich anfangen können, das Leben zu genießen, für das wir so hart gearbeitet haben, müssen wir deine Freundin und ihre zwei Kinder bei uns aufnehmen.«
    »Das Timing ist schlecht«, räumte sie ein.
    »Warum sollen wir ihretwegen alles aufs Spiel setzen?«, fragte er und sah ihr ins Gesicht.
    »Aufs Spiel setzen?«, sagte sie. »Ist das nicht ein bisschen übertrieben?«
    »Das ist wie ein Überfall.« Er warf seine Zigarettenkippe ins Wasser.
    »Sei doch nicht so.«
    »Wie soll ich denn sonst sein?«
    Ein Wind zauste die Weide, und sie lauschten auf das Rascheln und Flüstern um sie herum.
    »Schau mal«, begann Rose erneut. »Wir haben doch wirklich genug Platz. Wir haben das ganze große Haus für uns allein. Polly und die Jungs können im Nebengebäude wohnen, da sind sie komplett eigenständig. Sie können sich sogar selbst Essen kochen. Wir werden kaum merken, dass sie da sind.«
    Das Nebengebäude stand am vorderen Ende des Grundstücks, kurz hinter der Straße. Ursprünglich war es ein Hühnerstall gewesen, den sie in einer allerersten Baumaßnahme zu einer gemütlichen, wenngleich einfachen Einzimmerwohnung für Rose, Gareth und Anna ausgebaut hatten, mit einem kleinen Vorraum, in dem Andy schlafen konnte, wenn er zu Besuch kam. Es gab eine gutausgestattet e Küchenecke – Rose wusste, wie wichtig bei körperlicher Arbeit eine anständige Verpflegung war – und ein Badezimmer mit Dusche. Die ausgiebigen Wannenbäder hatten ihr zugegebenermaßen gefehlt.
    »Außerdem – wen kennen wir sonst noch, der so viel Platz hat?«, fuhr sie fort.
    Es stimmte. All ihre Freunde in London wohnten in winzigen Apartments oder, sofern sie Kinder hatten, in Reihenhäusern, die aus allen Nähten platzten. Niemand aus ihrem oder Pollys Bekanntenkreis hätte jemals das Geld für ein großes Grundstück wie das ihre gehabt. Selbst unter Pollys ehemaligen Kollegen aus der Musikbranche gab es keinen, der die drei Kriterien drogenfrei, finanziell gutgestellt und wohnhaft in England erfüllt hätte.
    Ohne den Tod ihrer Eltern hätten auch Rose und Gareth sich niemals ein Haus leisten können. Roses Vater und ihre Mutter waren kurz hintereinander an Leber- respektive Darmkrebs gestorben. Das Erbe umfasste den Erlös aus dem Verkauf ihres Hauses in Schottland sowie beachtliche Ersparnisse, die sie – zu einer Zeit, als so etwas noch möglich gewesen war – durch clevere Immobiliengeschäfte angehäuft hatten. Dieses
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