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Angsthauch

Angsthauch

Titel: Angsthauch
Autoren: Julia Crouch
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zu lachen, aber das Mädchen hat sie bloß angesehen wie ein wilder Tiger, und schon waren alle still.«
    Rose ahmte den Gesichtsausdruck für Anna nach. Sie konnte sich noch genau daran erinnern.
    »Die Lehrerin hat gesagt, dass wir uns setzen sollten. ›Alle mal herhören‹, meinte sie. ›Das ist Polly, und ich möchte, dass ihr nett zu ihr seid. Polly, suchst du dir bitte einen Platz?‹ Der einzige freie Platz war neben mir, also hat sie sich neben mich gesetzt. Sie hat mich angeschaut, weil ich so nass war. ›Miss, ich hab Sachen zum Wechseln in meiner Schultasche‹, hat sie zur Lehrerin gesagt. ›Darf das Mädchen sie anziehen? Ihr ist ja ganz kalt.‹ Und die Lehrerin hat es tatsächlich erlaubt. Ich bin dann mit Polly zusammen auf die Toilette gegangen. Ihre Sachen haben mir nicht besonders gut gepasst, weil sie so dünn war, und ich war damals ein bisschen pummelig. Aber wenigstens waren sie trocken. Seitdem waren wir beste Freundinnen. Wir haben jeden Tag in der Schule nebeneinandergesessen, und weil sie mit ihrer Mutter bloß eine Straße weiter wohnte, hatte ich auch nach der Schule endlich jemanden zum Spielen. Wir sind im Gästehaus herumgestreunt, haben uns vor meinen Eltern in den leerstehenden Zimmern versteckt und so getan, als würde das Haus uns gehören. Oder wir haben gespielt, dass wir ein Ehepaar auf Hochzeitsreise sind. Oft haben wir uns auch mit den Sachen von Pollys Mutter verkleidet – sie war sehr krank und lag die ganze Zeit im Bett, aber sie hatte viele schöne Kleider. Dann sind wir in langen Samtmänteln und viel zu großen Plateausandalen und Federboas am Strand entlangstolziert. Polly und ich haben beschlossen, dass wir Zwillingsschwestern sein wollten. Ihretwegen war ich nicht mehr allein, und langweilig war mir auch nicht mehr. Sie hatte immer eine Idee, was wir spielen konnten. Also hatte ich es am Ende doch so gut wie du. Du hast Flossie, und ich hatte Polly. Mit sechzehn sind wir dann zusammengezogen, und als sie später Sängerin wurde und ich Lehrerin, hatten wir eine tolle gemeinsame Wohnung in London. Wir haben viele Abenteuer erlebt, und manchmal waren wir ganz schön ungezogen.«
    »Was habt ihr denn gemacht?«
    »Das wird nicht verraten. Vielleicht erzähle ich es dir ein andermal. Aber jetzt schau nur, wie spät es ist. Längst Schlafenszeit, Fräulein.«
    »Och, bitte!«
    »Nein, morgen wird ein langer Tag. Gleich nach der Schule fahren wir zum Flughafen und holen Polly und die Jungs ab, du musst also gut ausgeschlafen sein. Stell dir mal vor – dann hast du nicht nur deine kleine Schwester, sondern auch noch Nico und Yannis zum Spielen.«
    Voller Vorfreude angesichts dieser Aussicht klemmte sich Anna ihren Teddybär unter den Arm und tappte die Treppe hinunter in ihr Zimmer, wo Rose sie zudeckte und ihr einen Gutenachtkuss gab. Sie strich ihrer Tochter über die dichten braunen Haare und spürte die Wärme ihres Atems an der Wange. Manky sprang aufs Bett und machte es sich auf seinen Stammplatz am Fußende bequem.
    Rose löschte das Licht und ging dann zu Flossie, um sie ein letztes Mal vor dem Schlafengehen zu stillen. Auf dem Weg nach unten versuchte sie, sich daran zu erinnern, wie es wirklich im Haus ihrer Eltern gewesen war, auf der düsteren, verwinkelten Treppe, die niemals aufzuhören schien, die immer höher und höher stieg, von ihrer winzigen Wohnung im Untergeschoss bis hinauf zu den Zimmern unterm Dach. Sie erinnerte sich an unzählige Treppenabsätze mit geschlossenen Türen, die sie magisch angezogen und dazu verlockt hatten, heimlich zu lauschen, was sich hinter ihnen abspielte. Aber am deutlichsten im Gedächtnis geblieben war ihr die beklemmende Angst, die sie empfunden hatte. Sie war heilfroh, dass ihre Töchter so etwas niemals würden durchmachen müssen.
    Flossen in ihren Adern etwa auch ein paar Tropfen Hoteliersblut? Sie hoffte, nicht, mit solchen Dingen wollte sie lieber nichts zu tun haben. Trotzdem hatte es ihr Freude gemacht, das Nebengebäude für den Besuch herzurichten. Es hatte ziemlich schnell gehen müssen. Sobald Polly die endgültige Einladung von Rose bekommen hatte, hatte sie keine Zeit verloren und sofort alles für die Abreise in die Wege geleitet.
    Aber jetzt war Rose mit ihren Vorbereitungen so gut wie fertig. Im Kopf ging sie die wenigen Dinge durch, die noch erledigt werden mussten: Betten beziehen, Milch in den Kühlschrank stellen, frische Handtücher und Toilettenpapier ins Bad, einen Strauß Osterglocken auf
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