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Angsthauch

Angsthauch

Titel: Angsthauch
Autoren: Julia Crouch
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gelandet sei.
    Und dann war Polly plötzlich da.
    Sie zerrte einen großen Koffer hinter sich her, hatte eine Gitarre auf dem Rücken und sah noch dünner aus als vor zwei Jahren. Im V-Ausschnitt ihres schwarzen T-Shirts konnte man deutlich sehen, wie sich die Schlüsselbeine unter der Haut abzeichneten. Ihr steifer, langer schwarzer Rock stand ab wie ein Lampenschirm. Sie sah nicht aus wie eine Witwe, sondern wie ein armes Waisenkind. Ihre zwei kleinen Söhne, fünf und neun Jahre alt, folgten ihr zögerlich blinzelnd. Mit ihren schweren Koffern wirkten sie wie die Überlebenden einer Apokalypse, die zum ersten Mal nach langer Zeit wieder das Sonnenlicht sehen.
    Wie üblich zog Polly alle Blicke auf sich.
    Rose rückte Flossie in ihrem Tuch zurecht, duckte sich unter der Absperrung hindurch und lief auf Polly zu. Anna folgte ihr. Rose schob sich Flossie vom Bauch auf die Hüfte, nahm ihre beste Freundin in die Arme und drückte sie an ihre Brust. Dabei atmete sie ihren altvertrauten Duft ein, eine Mischung aus Amber und Schweiß, verwoben mit einem düsteren Hauch Jasmin. Polly ließ die Umarmung still und in verkrampfter Körperhaltung über sich ergehen. Sie fühlte sich an wie ein verschrecktes Vögelchen, in dessen Körper man ganz schwach das Leben zittern spürt. Rose hatte ein wenig Angst, sie zu zerbrechen, wusste aber, dass Polly stärker war, als sie auf den ersten Blick wirkte.
    Der große Koffer kippte um. Nico, der Ältere, versuchte, ihn wieder aufzurichten, aber das Gepäckstück war fast so groß wie er selbst und vermutlich um einiges schwerer. Sein Bruder Yannis wollte ihm helfen, kam ihm dabei allerdings nur in die Quere, was ein heftiges Gerangel zwischen den beiden zur Folge hatte.
    Die übrigen ankommenden Passagiere mussten dem Spektakel großräumig ausweichen. Zwei reglos dastehende Frauen, zwischen ihnen ein kleines Baby; zwei schmächtige Jungs, die sich mit einem zerbeulten Koffer abmühten; und Anna, das adrette kleine Mädchen, das ein Stück abseits stand, als wisse es nicht, was gespielt wurde. Rose war sich bewusst, was für ein Bild sie abgaben, aber irgendwie gefiel es ihr.
    *
    Es war dunkel und regnete, als sie Richtung Westen auf die M 4 einbogen. Rose hatte die Heizung im Galaxy bis zum Anschlag aufgedreht. Das grüne Leuchten der Instrumente, das Rauschen der Lüftung und das rhythmische Geräusch der Scheibenwischer wirkten auf die Kinder wie ein Schlafzauber. Nachdem sie ein paar Minuten schweigend aus dem Fenster in den Regen gestarrt hatten, waren die Jungen eingeschlafen, die sonnengebräunten Gesichter zurückgelehnt, die Münder leicht geöffnet. Flossie und Anna folgten wenig später ihrem Beispiel.
    Es schien nicht notwendig und auch nicht angebracht, zu reden. Polly saß da, nippte an dem starken schwarzen Kaffee, den Rose ihr besorgt hatte, und trommelte mit abgeknabberten Fingernägeln auf ihrem Knie herum, als warte sie auf etwas. Rose kam sich vor, als säße sie neben einem elektrischen Feld, nicht neben einem Menschen. Sie blinkte und überholte einen großen Laster, der sie mit einer Fontäne Schmutzwasser bespritzte.
    »War es sehr schlimm?«, fragte sie nach einer Weile.
    »Noch schlimmer«, antwortete Polly und starrte auf die vom Regen verwischten Lichter von Reading. »Gott, was für ein finsteres Land. Nach ein paar Jahren vergisst man ganz, wie es hier aussieht.« Sie erschauerte.
    »Ist dir warm genug?«, erkundigte sich Rose.
    »Irgendjemand ist über mein Grab gelaufen«, meinte Polly und zog sich die Jeansjacke zu. »Sag mal, ich weiß, wir sind gerade erst losgefahren, aber können wir vielleicht eine Zigarettenpause machen? Darf man in diesem Land überhaupt noch irgendwo rauchen?«
    Rose hatte nichts dagegen. Bei Reading West fuhr sie ab und parkte am Rastplatz neben einer Tankstelle. Die Kinder rührten sich nicht. Polly stieg aus, kletterte die steile grasbewachsene Böschung hinauf und setzte sich an einen der Picknicktische. Sie zitterte im Regen. Rose holte einen Schirm aus dem Kofferraum, verriegelte die Türen und gesellte sich zu ihr. Das Auto hatte sie gut im Blick, für den Fall, dass die Kinder wach wurden.
    »Auch eine?« Polly hielt Rose ihren Tabakbeutel hin. Sie hatte dunkle Flecken unter den Augen, die aussahen, als stammten sie von ihrer Mascara, wahrscheinlich aber nächte langer Schlaflosigkeit geschuldet waren.
    Rose warf einen Blick auf den Wagen mit den schlafenden Kindern darin. Sie hätte sich die Zigarette verkneifen
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