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Angst

Angst

Titel: Angst
Autoren: Robert Harris
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vorn, in den Schutz der Hauswand. Er hielt das Telefon dicht an seinen Mund und flüsterte: »J’ai un intrus sur ma propriété.« Auf dem Band sollte sich seine Stimme später ruhig und dünn anhören, fast roboterhaft. Es war die Stimme eines Mannes, dessen Großhirnrinde ihre ganze Kraft auf das Überleben konzentrierte, ohne dass der Mann sich dessen bewusst war. Es war die Stimme nackter Angst.
    »Quelle est votre adresse, monsieur?«
    Er nannte sie ihr. Während er sich an der Hauswand entlangbewegte, konnte er hören, wie ihre Finger auf der Tatstatur tippten.
    »Et votre nom?«
    »Alexander Hoffmann«, flüsterte er.
    Die Überwachungsscheinwerfer gingen aus.
    »Okay, Monsieur Hoffmann. Restez là. Une voiture est en route.«
    Sie legte auf. Hoffmann stand allein in der Dunkelheit an der Ecke des Hauses. Für die erste Maiwoche in der Schweiz war es ungewöhnlich kalt. Der Wind blies von Nordost, vom Genfer See. Er konnte hören, wie die Wellen in schneller Folge gegen die nahen Anlegestellen schwappten und die Leinen scheppernd gegen die Stahlmasten der Jachten schlugen. Er zog sich den Morgenmantel enger um die Schultern. Er schlotterte am ganzen Leib. Er musste die Zähne zusammenbeißen, damit sie nicht klapperten. Und doch verspürte er seltsamerweise keine Panik. Er stellte fest, dass Panik und Angst etwas vollkommen Verschiedenes waren. Panik war moralischer und nervöser Zusammenbruch, eine Verschwendung wertvoller Energie, während Angst durch und durch Anspannung und Instinkt war: ein auf den Hinterbeinen stehendes Tier, das einen ganz vereinnahmte, das die Kontrolle über Gehirn und Muskeln übernahm. Er schnüffelte in der Luft und schaute an der Villa entlang in Richtung See. Irgendwo an der Rückseite des Hauses, in einem Raum im Erdgeschoss, brannte Licht. Es tauchte das Gebüsch im Garten in ein zauberhaftes Licht, gleich dem in einer Märchengrotte.
    Er wartete eine halbe Minute, dann schlich er sich langsam durch das breite Blumenbeet, das diese Seite des Hauses säumte. Erst war er sich nicht sicher, aus welchem Zimmer das Licht kam. Seit der Makler ihnen das Grundstück gezeigt hatte, war er nicht mehr so weit vorgedrungen. Als er sich dem Lichtkegel näherte, fiel ihm wieder ein, dass es sich um die Küche handelte. Schließlich hatte er sie erreicht, schob den Kopf am Fensterrahmen vorbei und sah im Innern eine Gestalt. Der Mann stand mit dem Rücken zum Fenster an der Arbeitsinsel mit der Granitplatte, die das Zentrum der Küche bildete. In aller Ruhe nahm er nacheinander die Messer aus ihren Schlitzen im Hackblock und schärfte sie mit einem elektrischen Messerschleifer.
    Hoffmanns Herz schlug so schnell, dass er das Rauschen seines Pulses hören konnte. Sein erster Gedanke galt Gabrielle: Er musste sie aus dem Haus schaffen, solange der Einbrecher in der Küche beschäftigt war – aus dem Haus schaffen oder zumindest dafür sorgen, dass sie sich im Bad einschloss, bis die Polizei eintraf.
    Er hatte immer noch das Telefon in der Hand. Ohne den Blick von dem Einbrecher abzuwenden, wählte er ihre Nummer. Sekunden später hörte er ihr Telefon klingeln – zu laut und zu nah, als dass es bei ihr im Schlafzimmer sein konnte. Im selben Augenblick hob der Fremde den Kopf. Gabrielles Handy lag da, wo sie es liegen lassen hatte, als sie ins Bett gegangen war: auf dem großen Kiefernesstisch. Das rosa Plastikgehäuse mit seinem leuchtenden Display bewegte sich summend über das Holz wie ein auf dem Rücken liegendes tropisches Insekt. Der Einbrecher neigte den Kopf zur Seite und schaute es an. Einige Sekunden lang rührte er sich nicht vom Fleck. Dann legte er mit unverän dert enervierender Gelassenheit das Messer zur Seite – Hoffmanns Lieblingsmesser, das mit der langen, schmalen Klinge, das sich besonders gut zum Ausbeinen eignete – und ging um die Kücheninsel herum zum Tisch. Dabei wandte er den Körper halb dem Fenster zu, sodass Hoffmann ihn zum ersten Mal richtig sehen konnte – hohle Wangen, unrasiert, kahler Schädel, an den Seiten lange, dünne, graue Haare, die zu einem fettigen Pferdeschwanz zusammengebunden waren. Er trug einen abgewetzten braunen Ledermantel. Er sah aus wie jemand, der in ei nem Zirkus oder bei einem Schausteller arbeitete. Er schaute das Telefon an, als hätte er noch nie zuvor eines gesehen, nahm es in die Hand, zögerte kurz, drückte dann auf einen Knopf und hielt es sich ans Ohr.
    Eine Welle mörderischer Wut erfasste Hoffmann. Sie überflutete ihn
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