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Angriff auf die Freiheit

Angriff auf die Freiheit

Titel: Angriff auf die Freiheit
Autoren: Juli Ilija;Zeh Trojanow
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geraten.

    Niemand kann mit Sicherheit sagen, wann eine Demokratie untergeht, wann ein Rechtsstaat zur leeren Hülle verkommt. Es gibt kein Maßband, keine Stoppuhr, keinen Lackmustest. Nirgendwo warnt ein Schild: »Vorsicht! Sie verlassen jetzt den demokratischen Sektor!«
    Im historischen Rückblick mag es im jeweiligen Fall offensichtlich scheinen, ab welchem Punkt die Freiheit irreversibel beschädigt wurde – im Falle des Nationalsozialismus etwa durch das Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933. Dann wird in die Vergangenheit hineingefragt: »Wie konntet ihr das drohende Unheil nicht erkennen? Das mußtet ihr doch kommen sehen! Warum habt ihr euch nicht gewehrt?« Und als Antwort hören wir nur das schwindelerregende Schweigen angesichts des scheinbar unaufhaltsamen Laufs der Dinge.
    Eine treffende Selbstdiagnose aus der Mitte des unmittelbaren Geschehens heraus ist ein Ding der Unmöglichkeit. Uns Zeitgenossen fehlt es am notwendigen Abstand; es fehlt schlicht an Kenntnissen über den zukünftigen Verlauf der Ereignisse. Die Folgen politischer Entwicklungen treten mal langsamer, mal schneller ein, stets aber aufeinander aufbauend, sich gegenseitig beeinflussend und daher vielschichtig.
    Weil sich die Freiheit eben nicht mit einem Paukenschlag verabschiedet, krankt jedes gut funktionierende System daran, daß sich seine wohlmeinenden Anhänger in (falscher) Sicherheit wiegen. Sie vergessen, daß sie ihre Freiheit nicht etwa vom Staat erhalten, sondern daß sie, im Gegenteil, einen Teil ihrer Rechte an den Staat abgeben. Freiheit ist kein Geschenk der Obrigkeit, sondern ein Grundzustand der Natur oder eine Gabe Gottes, je nachdem, welche Schöpfungsgeschichte Sie bevorzugen. Freiheit ist kein Bonus, keine Prämie, kein dreizehntes Monatsgehalt. Sie geht unserem Staatsverständnis voraus.
    Wären die Streiter für Gerechtigkeit und Freiheit so gut organisiert wie die Gegenkräfte, sähe die Menschheitsgeschichte anders aus. Wenn Millionen von Menschen auf die Straße gegangen wären, um ihre Grundrechte zu verteidigen, wäre es zu keinem der Überwachungs- und Kontrollgesetze der letzten Jahre gekommen. Es ist die Aufgabe eines jeden Bürgers, regelmäßig auszuloten, ob da, wo Freiheit draufsteht, tatsächlich noch Freiheit drin ist.
    Wir können uns gegen alles wehren, was uns der Staat zumuten will. Das ist die Essenz freiheitlicher Gesellschaften. Alle Rechte, die wir heute – etwa im Umgang mit Gerichten, mit der Polizei und anderen Behörden – genießen, sind Folge von individueller Skepsis und gemeinschaftlichem Widerstand, seit Jahrhunderten. Sie wurden erfochten von Menschen, deren Namen wir auf Straßenschildern wiederfinden und an die wir, wenn überhaupt, in Sonntagsreden beiläufig erinnert werden. Diese Menschen haben für die Überwindung entrechteter Versklavung oft genug mit ihrem Leben, ihrer Gesundheit oder ihrem Glück gezahlt. Als Nutznießer dieser Opfer tragen wir eine Verpflichtung gegenüber dem Erkämpften. Wir dürfen uns nicht leichtfertig die Butter vom Brot nehmen lassen, nur weil sie ein Geschenk unserer Vorfahren ist. Das Erreichte stellt keine Konstante dar; das einmal Errungene kann schnell wieder verschwinden. Freiheit ist ein Wert, der von jeder Generation, von jedem Einzelnen neu erkämpft und verteidigt werden muß. Auch von uns.
    Ein Frosch, der in einen Topf mit heißem Wasser geworfen wird, springt sofort wieder heraus, wenn er kann. Doch setzt man ihn in kaltes Wasser und erwärmt den Topf gleichmäßig, bleibt er ruhig sitzen, bis er stirbt.
    Wir haben in unserer Geschichte genügend Frösche als warnende Beispiele vor Augen. Wenn wir uns jetzt nicht wehren, werden wir späteren Generationen nur schwer erklären können, warum wir nicht in der Lage waren, ihnen eine Freiheit zu vererben, die wir einst selbst genossen. Seit acht Jahren schauen wir wie gelähmt zu, was in und mit unserem Land passiert, während man uns einzureden versucht, die Lehren des 20. Jahrhunderts hätten im 21. Jahrhundert nichts mehr zu bedeuten. Raus aus dem Topf!

    Anmerkungen zu diesem Kapitel

Zweites Kapitel: Der lange Weg zum Grundrecht
    Während der längsten Zeit in unserer Geschichte war ein Großteil der Menschen zu Knechtschaft und Unterdrückung verdammt. Diesen Mißstand zumindest in manchen Regionen der Welt überwunden zu haben ist eine der größten Leistungen der Menschheit. Die Idee der universellen, unveräußerlichen und unteilbaren Rechte ist nicht nur eines der
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