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Angriff auf die Freiheit

Angriff auf die Freiheit

Titel: Angriff auf die Freiheit
Autoren: Juli Ilija;Zeh Trojanow
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einen Schockzustand, der seitdem für immer weitere schockierende Folgen sorgt: Der Wertekanon, den man in Deutschland und erst recht in älteren Demokratien wie Großbritannien oder Frankreich für verfestigt gehalten hatte, erwies sich mit einemmal als flüchtig. Grundlegende Auffassungen von bürgerlicher Freiheit wurden wie Ballast über Bord geworfen. Ein Grundrechtsstandard, den wir als eine unserer größten Stärken betrachtet hatten, erschien plötzlich als Sicherheitslücke. Zivilisatorische Errungenschaften, die über Jahrhunderte erkämpft und erstritten worden sind, wurden im Handumdrehen entsorgt. Zur Bekämpfung der »terroristischen Bedrohung«, die seit langem bekannt, nur niemals zuvor so medial sichtbar gewesen war, ergingen grundrechtsbeschränkende Maßnahmen, deren Durchsetzung kurz zuvor niemand für möglich gehalten hätte.
    In den ersten Jahren nach dem 11. September 2001 waren die Zeitungen voll mit Warnungen vor dem Terrorismus, doch es gab kaum eine nennenswerte öffentliche Debatte über die Erweiterung der staatlichen Machtbefugnisse. Noch in den Achtzigern hatte eine geplante Volkszählung in Deutschland Massenproteste ausgelöst, weil viele Menschen eine Aktualisierung der Meldedaten als unerträglichen Eingriff in ihre persönliche Freiheit empfanden. Zwei Jahrzehnte später protestierte so gut wie niemand dagegen, daß jeder Bürger dem Staat seine Fingerabdrücke überlassen soll, obwohl es dabei offensichtlich nicht um die Fälschungssicherheit von Pässen, sondern um die Errichtung einer europaweiten Datenbank geht.
    Was ist passiert? Wirkt eine Verteidigung der individuellen Freiheit seit den schrecklichen Bildern aus New York wie kleinliches Beharren auf einer zu großzügigen Verfassung, wenn nicht gar als Angriff auf die staatliche Sicherheit? Sind prognostizierte Schreckensszenarien für die Massenmedien so viel interessanter und glaubhafter als die realen Einschränkungen unserer Grundrechte? So oder so liegt der traurige Verdacht nahe, daß es mit der Verinnerlichung freiheitlicher Ideale nie so weit her war, wie wir dachten. Die Erfolgsbilanz politischer Aufklärung nach dem Ende eines Jahrhunderts der Totalitarismen sieht trist aus.
    Obwohl das Bundesverfassungsgericht in einmaliger Weise einem Gesetz nach dem anderen den grundrechtlichen Riegel vorschiebt und dadurch die kritische Auseinandersetzung mit dem demokratischen Selbstverständnis befördert, hat sich am Tempo der sicherheitspolitischen Entwicklungen nichts geändert. Während in den Schulen immer noch die Idee vom alten Rechtsstaat gelehrt wird, findet draußen der große Umbau statt. Dieser Vorgang umgibt sich mit einer Aura der Unvermeidlichkeit. Gutmütig wie eine Kuh schaut der Bürger den angeblich zwingend notwendigen Entwicklungen zu und käut die dazugehörigen Argumentationen wieder: Anders als durch Freiheitsbeschränkung sei »Sicherheit« nicht zu gewährleisten, und der »unschuldige Bürger« sei von den Veränderungen doch ohnehin nicht betroffen. Unaufgelöst bleibt ein grundlegendes Dilemma, das bei ruhigem Abwägen der Sachverhalte unweigerlich zutage tritt: Kann man ein Wertesystem verteidigen, indem man es abschafft?

    Wer jetzt aufsteht und sagt: »Es reicht! Ihr schlagt etwas kaputt, das sich nicht mehr reparieren läßt!«, wer jetzt mit kindlicher Unschuld ausruft: »Der Innenminister ist nackt!«, der wird mundtot gemacht. Grundrechtsalarmist! Rechtsstaatshysteriker! Es sei doch lächerlich zu glauben, die paar Veränderungen der letzten Jahre gefährdeten schon die Demokratie! Manchmal wird sogar behauptet, jene Stimmen, die vor der Überwachungsgesellschaft warnen, seien von der typischen deutschen Krankheit der Staatsverächtung gezeichnet – was die letzten fünf Jahrhunderte deutscher Untertanengeschichte auf den Kopf stellt. Oder man wirft ihnen eine Art Wehrkraftzersetzung vor, weil sie die Fähigkeit des Staates schwächten, sich gegen den Terrorismus zu wehren. Ausgerechnet den Skeptikern des gesteigerten staatlichen Kontrollbedürfnisses wird ungerechtfertigtes Mißtrauen gegenüber den Behörden unterstellt – dabei zeigen vielmehr die Forderungen der Behörden nach immer mehr Eingriffsmitteln ein tiefsitzendes Mißtrauen. Der Bürger soll auf die guten Absichten des Staates vertrauen, während der Staat den Bürger auf Schritt und Tritt überwacht. Wenn aber der Staat glaubt, sich gegen seine eigenen Bürger verteidigen zu müssen, ist manches in Schieflage
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