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Anderer Welten Kind (German Edition)

Anderer Welten Kind (German Edition)

Titel: Anderer Welten Kind (German Edition)
Autoren: Wolfgang Ehmer
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Händen hielt sie einen weiteren grünen Briefumschlag und befingerte ihn mit nervösen kleinen Bewegungen. Ihre Augen waren wundgeweint und die Tränensäcke geschwollen. Die Nase stach rot aus dem blassen Gesicht hervor. Sie hob nicht den Kopf, als Christian eintrat, suchte keinen Kontakt. Stummes Leiden, aus dem die geballte Ladung aus Vorwurf, Selbstmitleid und Unverständnis quoll, umzäunt von der Entscheidung, die zu fällen das Ehepaar Lorenz den ganzen Nachmittag gebraucht hatte, nachdem ihnen die beiden Briefe per Einschreiben zugestellt worden waren. Sie suchte den Blick ihres Mannes, nachdem der sich schwer in den Sessel hatte fallen lassen, und nickte unmerklich. Christian hatte sich ganz leise gesetzt, blieb fast auf der Sesselkante hocken, bereit, sofort wieder aufzuspringen.
    „Er hat es doch versprochen“, wandte sich Christian an seine Mutter. „Ich muss doch nichts sagen, oder?“
    Die Mutter antwortete nicht, schaute nur ganz kurz hoch, als wenn sie sich überzeugen müsste, dass sie gemeint sei. Sie zog sich, eine kleine Bewegung nur, auf der Couch zurück, sodass ihre Füße gerade noch den Boden berührten, aber sie genügte, um die Balance zwischen sich und Fritz Lorenz zu ändern. Sie schob ihm den Part zu, das Gespräch zu führen, schien ihm die Verantwortung zu überlassen, schien unbeteiligt – vielleicht unschuldig? – an dem, was jetzt kommen würde. Er akzeptierte ohne sichtbare Reaktion.
    „Am Montag müsst ihr das Protokoll unterschreiben“, sagte er. „Du wirst mit deiner Mutter hingehen.“
    Ingeborgs Finger flatterten mit dem Brief.
    „Zum Gericht werde ich mitkommen und wehe, du lügst. Schämst du dich nicht, so viel Schande über uns gebracht zu haben?“
    Da war es, das Wort. Für seine Eltern ging es also nur darum. Immer nur dieses „Wie stehen wir denn da? Was sollen die anderen von uns denken?“ Was er durchmachte, interessierte sie doch keinen Furz. Als er etwas erwidern wollte, unterbrach ihn sein Vater, den Einhalt mit einer schlagähnlichen, sausenden Handbewegung verstärkend, dass es nichts zu diskutieren gäbe.
    „Wir haben nicht gesagt, dass wir uns deine Lügengeschichten weiter anhören wollen.“
    Christian glaubte, das Gespräch sei beendet, und stand auf. Irgendwie ging es ihn nichts mehr an. Die Schande seiner Eltern war in diesem Moment sein geringstes Problem.
    „Setz dich wieder! Habe ich gesagt, du kannst aufstehen?“, bellte Fritz Lorenz. Er atmete schwer, holte tief Luft und setzte an zum endgültigen Urteil. Alles andere war gewissermaßen das Vorspiel gewesen, die unabdingbare Voraussetzung, um zu diesem Entschluss zu kommen.
    „Wenn das hier vorbei ist, kommst du ins Heim. Wir werden nicht mehr mit dir fertig. Sollen andere dir deine Flausen austreiben. Am Monatsanfang wirst du abgeholt. Ich habe schon mit dem Jugendamt und dem Heim auf dem Priwall gesprochen. Da kannst du dir ja überlegen, was du deinen Eltern und deiner Schwester angetan hast.“
    Heim: Schläge mit der Hand, mit der Faust, Fußtritte, Stockhiebe. Eigene Kotze fressen, Eingesperrtsein in dunklen, schwarzen Löchern, stundenlanges Strafe-Stehen, Tüten kleben oder Körbe flechten, extrem kurze Haare, riesige Schlafsäle und rohe, gemeine Kameraden. Vorbei mit Rudern, mit dem Abitur, vorbei mit Frauen wie Helga, irgendeine Scheißarbeit, Knochenarbeit, vielleicht sogar Flure mit Zahnbürsten schrubben und Schläge, immer wieder Schläge, und sie würden wissen, warum er dort eingeliefert würde, und das wäre sein Ende.
    Christian wusste das, alle wussten das, irgendjemand kannte einen, der im Heim war. Der Horror schlechthin. Tausende Male angedroht, immer das letzte Mittel, um ihn zur Räson zu bringen, nicht nur ihn, bei allen, die er kannte, schien das Heim die logische Fortsetzung des Schwarzen Mannes zu sein, immer präsent, immer unfehlbar in seiner Wirkung, denn es gab es ja, das Heim, und es gab welche, die es durchlitten hatten. Jetzt war es so weit. Diesmal meinten sie es ernst. Das spürte er und nichts würde sie davon abhalten, ihn loszuwerden.
    Christians Bewegungen wurden spärlich, nachdem er leise die Tür zu seinem Zimmer geschlossen hatte. Er blieb einige Minuten dicht am Rahmen stehen, die Augen halb geschlossen. Er lauschte. Aus dem Wohnzimmer tropfte eine lastende Stille, auch das Ofengitter schwieg. Es war, als ob seine Eltern ihre Aufgabe exekutiert hätten, und es wäre nichts mehr übrig geblieben, was sich gelohnt hätte, benannt zu werden.
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