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Anderer Welten Kind (German Edition)

Anderer Welten Kind (German Edition)

Titel: Anderer Welten Kind (German Edition)
Autoren: Wolfgang Ehmer
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gebückt halb aufrecht stehen blieb, ein Bein auf dem Steg, nachdem er seinen Riemen ergriffen hatte, sah Mathias die Flügelschrauben der Fußbefestigung lösen und sie zwei Löcher weiter wieder eindrehen, sah, wie er die Botten links und rechts des Sitzes verstaute, sah Siggi und Jürgen ihre Sitze einnehmen, nachdem sie das Boot mit einem kräftigen Stoß vom Steg lösten, sah, wie die Steuerbordriemen gegen die Fahrtrichtung und die Backbordriemen in Fahrtrichtung eingetaucht wurden und das Boot eine Wende beschrieb, um sich dann mit gleichmäßigen Schlägen und in wunderschönen runden parallelen Wasserkreisen der vier Riemen zu entfernen, hörte das Quietschen und Rollen der Sitze, hörte Siggis „Und weg!“ immer schwächer werden, hörte es sich über dem Wasser im Hall verlieren, sah Henze in das kleine Motorboot steigen, die Leine lösen, den Außenbordmotor mit einem entschlossenen Reißen der Antriebsleine starten, ihn ins Wasser senken und dem Vierer hinterherfahren, ein Knie auf dem Quersitz, die Flüstertüte in der freien Hand.
    Niemand hatte ihn angeschaut.
    Ihm wurde schlecht. Er musste sich setzen. Und dort, zusammengekrümmt auf dem Steg, bleckte er erst die Zähne und dann stieg ein Wimmern in ihm hoch, von ganz tief in ihm, und er würgte Kotze und Elend und japste und japste und endlich trieb er einen Schrei hinaus, der in stoßartiges Weinen überging, das seinen ganzen Körper schüttelte. Er hörte auch nicht auf, als sich wieder Siggis „Und weg! Und weg!“ und das Motorengeräusch des Begleitbootes schon viel zu nahe in sein Bewusstsein drängten und er endlich fluchtartig den Steg hochjagte, im Umkleideraum seine Siebensachen aus dem Spind zerrte, sie in den Beutel stopfte und, ohne sich umzuziehen oder umzusehen, zu seinem Fahrrad stürzte und nur noch weit, weit weg wollte. Am liebsten wäre er aus dem Bilderrahmen seines Lebens hinausgeradelt, um außerhalb von allem, was ihn mit seinem Leben verband, ins Nichts wegzutauchen.
    „Wäre ich doch tot“, dachte er wieder und wieder.
    Helga sah ihn im Schatten der Platanen stehen, der weiße Streifen auf seinem Trainingspullover hatte ihn in dem diffusen Licht des Spätnachmittags verraten, hatte zu ihr hinaufgeleuchtet und ihre Neugierde geweckt. Ganz still stand sie hinter der Gardine, ein wenig ins Zimmer zurückgetreten, und beobachtete ihn. Sein Gesicht, ein gelblicher Fleck mit einem schwarzen Schatten seiner in die Stirn gefallenen schwarzen Haarsträhnen, konnte sie nur als flächiges Etwas ausmachen. Seine Konturen verwischten in der beginnenden Dämmerung, seine Gestalt in ihrer erstarrten Zusammengesunkenheit rührte sie an. Irgendwie passte sie dorthin, eine zum Wegducken bereite Spannungslosigkeit, in der sich trotz allem eine Behauptung verbarg, jetzt gerade dort zu sein. Was wollte er bloß? Warum in dieser für die Witterung viel zu dünnen Trainingsbekleidung? Und das Fahrrad, das sonst sorgfältig behandelt, jetzt beinahe achtlos in der Schwebe zwischen Fallen und Nichtfallen den Baumstamm halb heruntergerutscht war, eine in dem Fall jäh aufgehaltene Bewegung.
    Ach, Christian, dachte sie, nicht mehr, nicht weiter. In diesem „Ach Christian“ verschob sich seine Hilflosigkeit in ihre. Schon in der Schule hatte sie ihm nicht zu helfen vermocht, weil sie nicht konnte und weil sie nicht wollte. Sie war diejenige, die verletzt worden war, und trotzdem sah sie auch seine Not und erkannte seine Wehrlosigkeit, zu der sie sich hingezogen fühlte. Es war sein Mund, der seine Schwäche offenbarte, sein schutzloses Verziehen, wie im offenen Buch gelesen, sein Mund, dessen heruntergezogene Winkel sie mit kleinen Küssen hinwegzuretuschieren gesucht hatte, ganz sanft, ganz sacht. Daran musste sie jetzt denken, als sie sich mit kleinen Rückwärtsschritten in den hinteren Teil des Zimmers zurückzog, einen Moment überlegte und dann langsam die Treppe hinunterging.
    „Du kannst hier nicht stehen“, sagte sie, „mein Gott, du zitterst ja am ganzen Leib.“ Und nach einem kurzen Zögern: „Komm, komm erst mal rein.“
    Christian hatte sie nur angestarrt, als sie auf ihn zukam und ihn aufforderte mitzukommen, und er spürte schon wieder die Tränen hochsteigen und die Nase laufen. Den Rotz wischte er mit dem Ärmel weg. Dass er vor Kälte schlotterte, hatte er nicht bemerkt. Er strich sich automatisch die Strähne aus der Stirn, als er unvermutet im ovalen Flurspiegel neben der Garderobe mit seinem Gesicht konfrontiert wurde.
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