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Anderer Welten Kind (German Edition)

Anderer Welten Kind (German Edition)

Titel: Anderer Welten Kind (German Edition)
Autoren: Wolfgang Ehmer
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Er schaute gleich wieder weg, hatte gar keinen Blick für sich, war viel zu sehr damit beschäftigt, sich auf die neue Situation einzustellen, dachte aber en passant beim Kopfwegdrehen, dass er unbedingt den Pickel ausdrücken müsste, der auf der Wange unter dem rechten Auge wucherte und den seine Hand versucht war, sofort zu betasten.
    „Was machst du da draußen?“, sagte Helga. „Und wieso hast du deine Rudersachen an?“
    Sie standen im Eingangsflur. Helga hatte die Haustür leise geschlossen und musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen.
    „Was machst du bloß?“
    Christian wollte sich nur noch stumm an sie klammern und sie ganz fest halten, sie nie mehr loslassen, alles ungeschehen machen, Trost suchen, angenommen werden, von Neuem beginnen, sich ihr hingeben, sich ihr unterwerfen, sich ihrem Urteil beugen, alles, alles, nur nicht allein sein, aber sie wich zurück, als er einen Schritt auf sie zumachte, und er musste erkennen, dass sie dazu nicht bereit war.
    „Sie haben mich rausgeschmissen“, sagte er.
    „Wo rausgeschmissen?“, fragte Helga.
    „Na, aus dem Boot. Henze kam mit einem Neuen und dann haben sie mich stehen lassen und sind einfach weggerudert. Sie wollen mich nicht mehr. Henze hat das entschieden, wegen Berlin, und alle haben gehorcht.“
    Er musste schon wieder mit den Tränen kämpfen.
    „Das glaub ich nicht. Wieso denn? Wegen Berlin? Berlin war doch schon immer.“
    Als Christian nicht antwortete, sondern versuchte, seinen Weinkrampf zu unterdrücken, nickte sie und ganz leise sagte sie: „Ach so, ich verstehe. Henze! … Henze ist ein Arschloch.“
    Sie verstand. Die Gerüchte waren wahr, ihre Fantasien, die so weit gar nicht reichten, bestätigt, wenn selbst in der Lehrerschaft, und darüber hatte sie nach Wenzels und Henzes Reaktion jetzt keinen Zweifel mehr, die Beziehung zwischen Christian und Ricky Thema war. Also war etwas dran. Sie kämpfte zwischen Mitleid mit dem Menschen, der einmal ihr Freund war und jetzt als jämmerliches und gehetztes Wesen vor ihr stand, und der Empörung und dem Ekel, die sich wieder in ihr auszubreiten begannen, als die Vorstellung, dass Christian etwas mit Ricky gehabt haben könnte, Gestalt annahm und sich ihr wieder die demütigende Szene im Eiscafé Venezia aufdrängte.
    Sie standen im Flur, bewegten sich nicht, starrten sich an und die Sprachlosigkeit breitete sich aus wie eine gelblich-grüne Giftschwade, die sie lähmte und jede Möglichkeit eines Aufeinander-Zugehens abtötete.
    „Wo sind denn deine Sachen?“, fragte sie schließlich und Christian merkte, wie schwer es ihr fiel, die Versteinerung zu durchbrechen.
    „Beim Rad“, antwortete er.
    „Du kannst dich hier im Flur umziehen. Ich gehe schon mal nach oben. Du kannst die Tür einfach zuwerfen.“
    Sie drehte sich langsam um und stieg wie unter einer schweren Last Schritt für Schritt die Stufen hoch. Christian hörte die Tür zu ihrem Zimmer ins Schloss fallen. Panik stieg in ihm hoch und es war ihm, als wenn er es gar nicht selbst wäre, der langsam zu seinem Fahrrad ging, den Beutel vom Gepäckträger klaubte, in den Flur zurückging, sich in bedächtigen Bewegungen umzog und dann die Eingangstür leise zuzog und davonradelte. Diesmal stand Helga nicht am Fenster.
    Der Briefumschlag war hellgrün und in der oberen linken Ecke prangte ein runder Stempel, in dessen Mitte der Lübecker Adler ein wenig verwischt und auch die umlaufende Schrift erst beim genauen Hinschauen zu entziffern war. Er lag auf dem Küchentisch, nicht achtlos fallengelassen, sondern sorgsam in die Mitte platziert, sodass er Christian sofort ins Auge fiel, als er, erschöpft und verzweifelt, schnell ein Glas Milch trinken wollte, um sich dann in sein Zimmer zurückzuziehen.
    Aus dem Wohnzimmer hörte er gedämpfte Radiomusik und undeutliche Gesprächsfetzen seiner Eltern, die er kaum wahrnahm. Der Brief war an ihn adressiert mit einer Schreibmaschinenschrift, deren Buchstabe L nicht ganz vollständig abgebildet war, was ihm sofort auffiel, es sah aus wie I orenz. Es war ein Einschreiben. Er nahm den Briefumschlag in die Hand und drehte ihn so, dass er die umlaufende Schrift auf dem Stempel lesen konnte: „Amtsgericht der Stadt Lübeck“ stand dort. Der Brief war schon geöffnet worden, aber die Lasche war noch intakt, so als wenn der Kleber nur flüchtig aufgetragen worden wäre. Er roch nach dem Büroleim, den auch sein Vater aus der Spedition mit nach Hause brachte, eine kleine schlanke dickwandige
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