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Anderer Welten Kind (German Edition)

Anderer Welten Kind (German Edition)

Titel: Anderer Welten Kind (German Edition)
Autoren: Wolfgang Ehmer
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Und so war es ja schließlich auch. Sie waren erschöpft. Nach den quälenden Diskussionen, dem Nichtverstehen, dem Heraufbeschwören allen Leids, das ihnen der Junge angetan hatte, der wiederholten Infragestellung längst getroffener Entscheidungen und der Vorwegnahme des Abschieds, eher einer Lossagung, als der Urteilsspruch verkündet wurde, einem Resümee gleich, das der Vater in stummer Übereinkunft mit der Mutter, die sich schon nicht mehr verantwortlich fühlte, verkündet hatte. Fertig gedacht und fertig gesprochen. Später, viel später würden sie sich fragen, ob sie es sich nicht allzu leicht gemacht hätten.
    Dieses Schweigen saugte Christian auf, als, an die Tür gelehnt, die Entschlüsse zu reifen begannen. Es half ihm, den Gedanken in sich festzusetzen: Sie kriegen mich nicht. Es half ihm, alles hinter sich zu bringen und das, was er vor sich hatte und was ihm ein solches Grauen verursachte, als unrealistisch und außerhalb von ihm zu verorten.
    Zusammengekauert wie ein Fötus lag er mit dem Gesicht zur Wand und wartete. Er war hellwach, hielt die Augen geschlossen. Einen Arm hatte er unter seinen Kopf geschoben, den anderen zwischen seine Beine geklemmt. Wenn er die Augen öffnete, blickte er auf ein Fünfmarkstück großes, flaches Loch, eher einer Vertiefung gleich, in der verputzten und mit einem hellgrünen Blumenornament geschmückten Wand. Er konnte sich noch gut daran erinnern, wie er Streifen für Streifen die Walze mit dem erhabenen Blumenrelief die Wand von oben nach unten heruntergerollt hatte, peinlich darauf bedacht, parallel zu rollen und nicht zu fest zu drücken, damit nur die Blumenfarbe an der Wand haftete, und wie mühselig es gewesen war, die Flecken, an denen die Walze die Wand berührt hatte, mit einem feinen Pinsel weißer Farbe abzudecken. Um das Loch im Putz rankte der Blumenstiel mit seinen ovalen Blättern.
    Das Zimmer war nicht ganz dunkel; die Hoflaternen warfen ein diffuses, funzeliges Licht ins Zimmer. Vorhänge gab es keine, nur einen im Fensterrahmen an einer Schiene befestigten Store mit durchbrochenem Muster, der die untere Hälfte des Fensters ausfüllte. Er hörte die Haustür und Renate heimkehren und nach einem kurzen Hallo ins Wohnzimmer in ihrem Zimmer verschwinden, um eine kurze Zeit später das Badezimmer aufzusuchen. Nach der Toilettenspülung und dem schlurfenden Gang zurück ins Zimmer war es still.
    Plötzlich bemerkte er, dass die kleinen, gelben Lichtstreifen, die aus dem Ofengitter auf das Fußende des Bettes fielen, weg waren. Seine Eltern hatten die Lampen im Wohnzimmer gelöscht und er hörte sie nacheinander, zuerst seine Mutter und dann seinen Vater, den Flur entlang ins Badezimmer gehen, Wasserhähne öffnen und schließen und die Toilettenspülung bedienen. Vor seinem Zimmer hielten sie nicht an. Dann war es still.
    Christian wartete. Seine Stellung hatte er nicht verändert. Dann stand er leise auf und schlich ins Badezimmer. Er schloss ab. Er löste leise, leise die Fliese im Badewannensockel und fingerte das Tagebuch heraus. Es war immer noch in das Zeitungspapier geschlagen und krümeliger, weiß-grauer Bauschutt, der sich in der kleinen Höhlung gesammelt hatte, hatte die Ecken und die Unterseite eingestaubt.
    Er verschloss wieder sorgfältig die Fliese und stopfte sich das Büchlein in die Hose, zog den Pullover darüber und schlich zurück in sein Zimmer, jedes Geräusch vermeidend.
    Er setzte sich an seinen Schreibtisch am Fenster und entfernte Schicht für Schicht das Zeitungspapier, bis das Tagebuch seiner Großtante Hermine vor ihm lag. Er faltete das Papier mit ruhigen, ökonomischen Bewegungen zusammen, strich es mit einer entschlossenen Handbewegung glatt und schob es an den Rand des Tisches. Er öffnete das Tagebuch, überflog Seite für Seite, hielt bei einigen, wenigen Stellen inne, überging die Gedichte, sie hatten keinen Nutzen, und suchte, immer verzweifelter werdend, nach den Sätzen, von denen er glaubte, Trost oder Verständnis zu finden. Aber was er las, war über eine Frau, die sich im Recht glaubte, die jede ihrer Schwächen und Lügen verteidigte. Sie strahlte nicht die Stärke aus, die er jetzt brauchte, warum hatte er das bloß geglaubt?
    Langsam schloss er das Buch und starrte zum Fenster hinaus, nachdem er den Store ein wenig angehoben hatte. Die nächtliche Stille war vollkommen. Nichts regte sich draußen, nicht das geringste Geräusch drang zu ihm hoch. Seine Tränen tropften vom Kinn auf die Resopalfläche
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