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Anatomie

Anatomie

Titel: Anatomie
Autoren: Bass jefferson
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grotesken Gesichtsausdrucks etwas seltsam Schönes an sich.
    Ich machte einen Schritt nach vorn, hielt dann inne und rief: »Waren Sie alle hier drin?«
    »Nur so weit, um die Leiche sehen zu können. Wir wollten hier nichts verändern, bevor Sie nicht die Gelegenheit hatten, einen Blick darauf zu werfen.«
    »Gut. Ich wünschte, Ihre Kollegen wären alle so vorsichtig.«
    Ich nahm die Kleinbildkamera heraus, die ich aus Knoxville mitgebracht hatte. Zu Anfang meiner Karriere gab mir einer der klügsten Polizisten, mit denen ich je zu tun hatte, einen Rat, der sowohl Tatortfotografen wie auch skrupellosen Bankräubern weiterhelfen konnte: »Schieß dir den Hinweg frei, und schieß dir den Rückweg frei«, sagte er, und genauso machte ich es seither. Ich stand im Eingang zu der Kristallgrotte und fing mit Weitwinkelaufnahmen in Augenhöhe an, um die Szene als Ganzes zu erfassen. Dann hockte ich mich hin und machte aus einem tiefen Aufnahmewinkel Bilder vom Boden der Höhle – noch so ein Trick, den er mir beigebracht hatte. Die Blitzschatten würden aus den Fußabdrücken ein scharfes Relief zeichnen.
    Der Blitz war zu hell und zu schnell, um mit bloßem Auge erkennen zu können, was ich erwischte, also ließ ich den Schein der Taschenlampe über den Boden wandern. Er war uneben, und daher war es schwer zu sagen, aber ich glaubte, Fußabdrücke ausmachen zu können, die sich auf die Leiche zubewegten. Ich machte aus verschiedenen Blickwinkeln Nahaufnahmen davon, dann wandte ich meine Aufmerksamkeit und das Objektiv der Leiche zu.
    Ich trat langsam und auf Umwegen näher und machte jedes Mal ein Foto, wenn ich mich mehr als zwei Schritte von der Stelle bewegt hatte. Ich hatte mit einem neuen 36er-Film angefangen – wie immer Dias, denn ein Rundmagazin ließ sich leicht in einen Seminarraum oder einen Gerichtssaal mitnehmen, und die Auflösung eines Dia-Films war immer noch weitaus besser als jede digitale Aufnahme. Ein gutes Dia konnte man auf eine Kinoleinwand projizieren, und es sah immer noch scharf aus; versuchen Sie das mal mit einem digitalen Bild, und es verwandelt sich in eine verhangene impressionistische Interpretation eines in Nebel gehüllten Tatorts. Abgesehen davon hatte ich das eine Mal, als ich eine Digitalkamera benutzt hatte, jedes Mal, wenn ich ein Foto machte, das vorherige damit überschrieben, sodass ich den Tatort mit einem einzigen Foto verließ, der Nahaufnahme einer Stichwunde. Allerdings hatte ich gelesen, dass vor ungefähr einem Jahr der letzte Kodak-Rundmagazin-Diaprojektor vom Fließband gerollt war, also konnte ich davon ausgehen, dass meine nichtdigitalen Tage gezählt waren. »Zum Teufel mit dem Fortschritt«, murmelte ich.
    »War was, Doc?«
    »Tut mir leid, ich rede hier drin mit mir selbst. Sie können reinkommen.«
    Sie zwängten sich durch die Felsspalte in die Grotte. Williams, mager wie ein streunender Hund, glitt mühelos hindurch. Kitchings musste einiges an Zeit und Mühe aufwenden. Zuerst drehte er sich seitlich und hob die Arme. Als er den schmalsten Teil des Durchlasses erreichte – »Fat Man’s Squeeze« würde die Passage heißen, wenn das hier eine geführte Höhlentour wäre –, langte er nach unten, schob die Hände unter den Bauch und drückte diesen nach oben wie eine gewaltige Brust in einem zyklopischen Wonderbra. Ich wusste, dass es nicht angeraten war, konnte aber nicht widerstehen: Ich hob die Kamera und drückte ab.
    Er schrie auf, als das Blitzlicht ihn blendete. »Gottverdammt! Was zum Teufel …«
    Ich grinste. »Ich muss doch alles am Tatort dokumentieren.«
    »Dokumentieren Sie doch meinen Arsch! Sehen Sie, Doc, forensische Legende hin oder her, sollten Sie dieses Foto einer Menschenseele zeigen, garantiere ich Ihnen, dass sämtliche Geschworenen in Cooke County Ihren Tod als zu rechtfertigende Tötung betrachten werden.«
    Da meldete sich Williams. »Könnte sein, Sheriff, aber um sich rauszuwinden, müssten Sie das Bild allen zwölfen zeigen.« Er kicherte bei der Vorstellung.
    »Mist. Das verkompliziert die Sache doch mächtig, was? Ich schätze, ich konfisziere wohl besser nur den Film.«
    »Ich würde mir da keine schlaflosen Nächte machen, Sheriff«, sagte ich. »Ich glaube, ich hatte sowieso den Objektivdeckel aufgesetzt.«
    Als die beiden neben mir standen, fragte ich: »Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich ein Foto von Ihren Füßen mache?«
    Einen Augenblick schauten sie mich verdutzt an, bevor ihnen ein Licht aufging. Kitchings griff nach
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