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Anatomie

Anatomie

Titel: Anatomie
Autoren: Bass jefferson
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Geschichten darüber erzählt. Laut der einen ist es ein seltsames Echo des Flusses. Laut der anderen sind es die Geister indianischer Kinder.«
    Er spürte wohl meine Verwirrung, denn er fuhr fort: »Diese Höhle liegt auf Land, das fünf verschiedenen Stämmen als heiliger Ort galt. Selbst wenn sie Krieg gegeneinander führten, konnten sie sich hier in Frieden versammeln. Ein mächtiger Zauber, sagen sie. Wenn ich draußen im hellen Tageslicht bin, glaube ich an die Wissenschaft. Hier im Dunkeln glaube ich an die Geister.«
    Er schaltete eine Taschenlampe ein, und das Lachen erstarb augenblicklich. Aus einer Transportbox, die hinten am Motorrad befestigt war, holte er drei starke Laternen und eine Jacke, auf deren Rücken in dicken, fetten Buchstaben »DEA« zu lesen war. »Hier, Sie ziehen besser diese Jacke an, Doc – ein Erbstück von der Drogenfahndung –, sonst holen Sie sich hier unten noch eine Lungenentzündung.« Ich winkte ab, doch er hielt mir die Jacke weiter hin. »Ich würde nur ungern als der Sheriff in die Geschichte eingehen, der Dr. Brockton auf dem Gewissen hat«, sagte er. Erst als ich die Jacke anzog, bemerkte ich, dass ich bereits vor Kälte zitterte.
    Wir stapften den Rand einer ansteigenden Mulde hinauf, duckten uns in einen seitlichen Tunnel und gelangten bald in eine andere Kammer. Bisher waren die Wände der Höhle von einem stumpfen Graubraun gewesen, doch hier glitzerten sie – ja, leuchteten förmlich – im Feuer von Millionen von Kristallen. Quarz, vermutete ich, obwohl es glänzte wie Diamanten. Ein riesiger Stalagmit, ebenfalls mit Kristallen überzogen, füllte eine Seite der Kammer.
    Eine schmale Spalte trennte den Stalagmit von der Wand. Kitchings nickte in Richtung der Felsspalte und ließ das Licht über die Öffnung gleiten. Ich schob mich hinein. Es war knapp – ich fragte mich, wie der Sheriff seinen Bierbauch durchgezwängt hatte –, doch dann öffnete sich der Spalt in eine kleine glitzernde Grotte. Auf einer Felsplatte an der Seite lag eine Leiche – und zwar die ungewöhnlichste menschliche Leiche, die ich je zu sehen bekommen hatte. Ich starrte, blinzelte und starrte wieder.
    Der Sheriff hatte recht gehabt. Ein Tag – oder ein Monat oder sogar ein Jahr – würde diesem Leichnam, der hier auf einer Felsplatte in dieser prächtigen Grotte lag, kaum etwas anhaben können.
    Ich hatte schon oft Adipocire gesehen. Der Begriff stammte aus dem Lateinischen und bedeutete wörtlich übersetzt »Leichenwachs«; das war eine ziemlich treffende Bezeichnung: Es handelt sich um eine schmierige, talgähnliche Masse, die sich bildet, wenn fettreiches Fleisch sich in feuchter Umgebung zersetzt. Adipocire fand sich oft an Leichen, die in feuchten Kellern oder Kriechkeller unter Häusern verbuddelt wurden; ebenso bei Wasserleichen – Leichen, die in Tennessees vielen Seen und Flüssen gefunden werden –, wobei dort der größte Teil der Adipocire entlang der Wasserlinie der Leiche zu finden war. Doch die vielen Kellerleichen und Wasserleichen, die ich gesehen hatte, hatten wenig Ähnlichkeit mit der Gestalt, die hier vor mir auf der Felsplatte lag. Auf den ersten Blick wirkte die Leiche wie ganz in Adipocire eingehüllt, doch als ich sie genauer in Augenschein nahm, wurde mir klar, dass das, was ich da sah, kein oberflächlicher Überzug war, sondern etwas sehr viel Selteneres. Das Weichgewebe war komplett in Adipocire umgewandelt worden – fast, als hätte Madam Tussaud hier ganz für mich allein eine Wachsmumie platziert. Die Kleidung war, wie es schien, zerfallen, ihre Reste eingeschmolzen in die dunkle Schicht, die am Hals der Leiche anfing und bis hinunter zum modrigen Leder an den Sohlen ihrer Füße führte. Die Smithsonian Institution besaß eine ähnliche Leiche; es handelte sich um Wilhelm von Ellenbogen, der vor mehr als einem Jahrhundert ausgegraben worden war, als man einen Friedhof verlegt hatte. Das Mütter-Museum in Philadelphia – Heimat einiger der bizarrsten medizinischen und forensischen Kuriositäten auf der ganzen Welt – war im Besitz seines weiblichen Gegenstücks, das sie wegen der chemischen Verwandtschaft von Adipocire mit Seife »Soap Lady« getauft hatten. Doch diese beiden Exponate waren im Vergleich zu der schauerlich konservierten Leiche vor mir missgestaltet und abstoßend. Obwohl unser Fund wohlgemerkt kein Bild ewigen Friedens bot – die Augen starrten blind, und der Mund war zu einem ewigen Schrei weit aufgerissen –, hatte sie trotz des
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