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Anatomie Einer Nacht

Anatomie Einer Nacht

Titel: Anatomie Einer Nacht
Autoren: Anna Kim
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alias Bank mit einer von insgesamt zwei öffentlichen Telefonzellen, die alte Kirche, nunmehr das neue Museum, das Gemeinschaftshaus, in dem jeden Donnerstag und Freitag musiziert wird, die Touristeninformation sowie die neue Kirche, die auf dem höchsten Punkt der Stadt mit Blick auf den Hafen errichtet wurde.
    Durch den tiefsten Punkt Amarâqs sprudelt ein Fluss, der in den Seen im Tal der Blumen seine Quelle hat. Am südlichen Talrand liegen das Waschhaus, in dem sich die öffentlichen Duschen und Waschmaschinen befinden, die Billard-Bar, die nur freitags geöffnet hat, sowie der neue Friedhof, den eine hartnäckige Düne in zwei Hälften gebissen hat und der sich bis zum Horizont mit unzähligen weißen Holzkreuzen und Blumen erstreckt, die nie vertrocknen oder ertrinken und erst dann ausgetauscht werden, wenn sie die Farbe des Schlammes angenommen haben. Mit ihrer Hilfe können die Gräber unterschieden werden, da die Kreuze keine Namen tragen, bis auf eines, in das eine Inschrift geritzt ist: Rasmus Petersen, 1995 – 2006, assuaki, ich liebe dich .
    Im Winter, wenn der Himmel in Flocken zerfällt und die Erde in sein Spiegelbild verwandelt, wird der Friedhof unsichtbar, die Plastikblumen blühen unterirdisch weiter, und das Weiß der Kreuze wird vom Weiß des Schnees verdeckt. Ein Mal im Jahr verschwindet der Tod spurlos, und dies ist der Beweis dafür, dass er nicht endgültig ist, so sehen es die Bewohner Amarâqs, sondern durch die den Gräbern vorenthaltenen Namen überwunden wird, denn der Name ist nicht nur ein Zeichen der Zuordnung, ein Identifikationsmerkmal, ein Ordnungsstifter, er enthält auch die Seele seines Trägers, und solange es den Namen gibt, solange er weitergegeben wird, ist der Mensch unsterblich.

3    Ein leerer blauer Plastikbeutel mit der Aufschrift Pilersuisoq liegt auf dem Teppich, Ole Ertaq zieht ein Jagdmesser aus dem Rucksack, lässt es in die Tüte fallen.
    Jetzt du.
    Magnus Uuttuaq schiebt eine Fotografie dazu.
    Sonst nichts?
    Magnus schüttelt den Kopf.
    Gut.
    Ole nickt, verschließt den Sack und stellt ihn in die hinterste Ecke des Kleiderschranks, hinter die Schachteln voll Zeichnungen, Bücher und Hefte, die Stöße von T-Shirts, Hosen und Pullovern. Im Laufe der Jahre wurden die Zwischenböden aus dem Schrankinneren entfernt, um Platz zu schaffen, nun schieben sich die Wände langsam auseinander, es fehlt eine Schraube, und eine zweite hat sich gelockert.
    Und du bist sicher, dass Lars ihn hier finden wird?
    Magnus nickt. Lars sei schon einmal in seinem Zimmer gewesen und er habe damals gemeint, dass man in diesem Schrank alles verschwinden lassen könne. Wann sollen wir ihn anrufen, fragt Ole? Noch nicht, sagt Magnus, legt seine Hand auf den Mund, als er Schritte im Flur hört.
    Ich dachte, deine Großeltern schlafen?
    Magnus springt auf, geht zur Zimmertür und hält sein Ohr an das Holz. Manchmal wandert Großvater durch das Haus, flüstert er, nachts, wenn er glaubt, dass ich schlafe, dann knüpft er Köder an Angelschnüre, weiße, rote und hellgrüne, bis seine Brille vom Nasenrücken fällt, er auf die Tischplatte sinkt und einschläft.
    Nebenan öffnet und schließt sich die Zimmertür, die Schritte werden leiser, dann öffnet und schließt sie sich erneut, sie hören das Knarren der Stufen, endlich ist es still. Wir warten besser noch, sagt Ole und greift zur Zigarettenschachtel.
    Du hast doch niemandem etwas verraten?
    Nein. Du?
    Sie hätten lange genug an diesem Plan gearbeitet, sagt Ole, er würde ihn niemals gefährden.
    Wir müssen sichergehen, dass deine Großeltern schlafen.
    Seine Großmutter könne nicht sprechen, murmelt Magnus, selbst wenn sie wach sei, werde sie sie nicht verraten, sein Großvater habe einen leichten Schlaf, aber er höre schlecht. Es wird schon gehen, setzt er hinzu.
    Ole geht zum Fenster, öffnet es, zündet sich eine Zigarette an und gibt Magnus eine, dieser nickt, stellt sich zum Freund; beim ersten Zug muss er husten.
    Du hast dich noch immer nicht ans Rauchen gewöhnt.
    Ole grinst. Magnus schüttelt den Kopf, räuspert sich.
    Es wird schon.
    Was, glaubst du, wird dein Großvater mit deinen Sachen machen?, fragt Ole.
    Weiß nicht, sagt Magnus. Ist mir auch egal, ist nur Kram, nichts von Bedeutung.
    Das meiste habe er schon seit Jahren nicht mehr benutzt, sagt er. Und deine Eltern, fragt er, was werden sie mit deinen Sachen machen?
    Nichts, was sie nicht trinken können, interessiert sie nicht.
    Vielleicht verkaufen, fügt Ole
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