Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Anatomie Einer Nacht

Anatomie Einer Nacht

Titel: Anatomie Einer Nacht
Autoren: Anna Kim
Vom Netzwerk:
Wind und sich deswegen nach einer neuen Behausung umsieht, sich schließlich für einen Robbenkörper entscheidet, für ein Robbenleben im eisigen Wasser, zwischen Bergen aus Eis, in Tälern, so tief, dass sie in der Finsternis enden, so glatt, dass man auf ihnen in die Freiheit rutschen kann, aber sie lernt, dass auch diese Freiheit Beschränkungen unterliegt. Und wenn sich die Wolken auf das Meer legen, stellt sie fest, löst sich ihre Welt in nichts auf, ein farb- und formloses Nichts, dann stößt sie beim Schwimmen an den Horizont, diese Linie, die sie einst mit freiem Auge kaum wahrgenommen hat, denn diese besitzt die Angewohnheit zu verschwinden, noch während man schaut, und sie lernt, dass der Horizont in Wahrheit keine Linie, sondern ein Steg ist, und sie erfährt, dass sie, wenn sie sich beim Tauchen mit den Hinterflossen von ihm abstößt, die Geschwindigkeit erreichen wird, die notwendig ist, um unter die Wasseroberfläche zu zischen, aber sie lernt auch, dass das gewählte Leben ein gefährliches ist, als sie, von einem unsichtbaren Jäger harpuniert, in der leblosen Hülle zum Wohnplatz gezogen wird, über unebenes Eis, als sich die Jägersfrau über sie beugt und das Fleisch zu zerteilen beginnt, die Stücke zu verfüttern an die umstehenden jaulenden, kläffenden Hunde, so dass sie von einem Robbenteil in den anderen flüchten muss, schließlich ganz hinauf in die Kehle, um von hier auf die Erde zu fallen: als Säugling.
    Ages Lieblingsmärchen, sagte Johanna und winkte zum Abschied.
    Bye.
    Warte, sagte Jens zum zweiten Mal.
    Wer ist Age?
    Mein Mann.
    Julies Vater, verbesserte sich Johanna hastig und wehrte jede weitere Frage ab, indem sie hinzufügte, er sei vor drei Jahren gestorben. Vor drei Jahren, wiederholte Julie und sah ihre Mutter an, als wäre sie eben erst aus einer tiefen Verwunderung erwacht.
    Er habe sie nicht vergessen können, sagt Jens und meint eigentlich: Er habe ihren Gesichtsausdruck nicht vergessen können, er habe sich an diesen Ausdruck der Verwunderung erinnern müssen, er trat etwas in ihm los und stellte eine Verbindung zu ihm her, von diesem Moment an war er auf der Suche nach ihm, wollte ihn erkunden, erforschen, wollte ihn spüren, denn er war im Grunde kein Bild, sondern die direkte Übersetzung eines Gefühls, und vielleicht hatte Jens schon immer nach ihm gesucht, insgeheim.
    Was verbirgt sich hinter der Sehnsucht, die wir Liebe nennen, wird sie durch die Gespräche gefestigt, die weniger Dialoge sind als vielmehr Geständnisse? Und in einem Vergleich von Bekenntnissen findet eine Annäherung statt, die im Grunde auf einer Illusion beruht, der Illusion, man verstünde wirklich und wahrhaftig, wovon der andere spricht.
    Man müsse sich vor den Verstorbenen schützen, hatte Julie ihm ins Ohr geflüstert, und jedes Wort war von einer Wärme begleitet worden, unbestimmbar, diffus, sie würden den Kontakt zu ihren Familien nie aufgeben.
    Sie kommen dich besuchen, in schrecklicher Gestalt.
    Ob er an die Unsterblichkeit glaube, hatte sie ihn noch gefragt, aber seine Antwort nicht abgewartet, sondern gesagt, was für ein Unsinn, wir verbrauchen unser Leben damit, den Tod zu fürchten.
    Am nächsten Tag zog sie, nur eine Woche nach ihrer ersten Begegnung, bei ihm ein; sie ging einfach nicht mehr nach Hause. Sie blieb bei ihm, bis Johanna vor der Tür stand, besorgt, bekümmert, und Jens nach dem Verbleib ihrer Tochter fragte, ihrer minderjährigen Tochter, wie sich im Verlauf des Gesprächs herausstellte, so dass er, notgedrungen, Julies Anwesenheit leugnete und die Mutter heimschickte. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass diese wirklich gegangen war, zwang er Julie, ihre Sachen zusammenzusuchen und sie in einen Rucksack zu stopfen, danach zerrte er sie vor die Tür und sagte ihr, er wolle sie nie wieder sehen: nie wieder.
    Wann war das?
    Am Dienstag.
    Seither habe sie ihm überall aufgelauert, sie habe ihn verfolgt, sie habe ihm keine Ruhe gelassen, sie habe sich an ihn geheftet, nur um ihm immer wieder zu versichern, zu schwören, dass sie ihn nicht absichtlich belogen, nicht absichtlich in die Irre geführt habe.
    Aber du glaubst ihr nicht?
    Sie ist vierzehn. Es ist egal, ob ich ihr glaube oder nicht.
    Sein Blick weicht Sivkes aus, bleibt an der Tür hängen.
    Glaub mir, es ist egal.
    Sie hätte längst schreien müssen, aber heute ist sie schrecklich ruhig, Mikileraq Bak tritt vorsichtig auf, auf gespreizten Zehen, die sie in ihr Beinhaus, Schneckenhaus, einfährt,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher