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Anatomie Einer Nacht

Anatomie Einer Nacht

Titel: Anatomie Einer Nacht
Autoren: Anna Kim
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wenn sie sie nicht länger braucht. Das Spielzeughaus knackst unter den Sohlen, sie hat die Mauern zum Einstürzen gebracht, Mikileraq seufzt und geht auf Zehenspitzen weiter, der Holzboden knarrt, die weißen, zu Weihnachten auf Wolle gefädelten Wattekugeln, Schneekugeln, hängen von der Decke, im Mondlicht sehen sie aus wie gefrorene Sonnen, und die kleine Plastikschaukel, die Maja tagsüber anstößt, verhält sich still, als versuchte sie, sich zu verstecken. Auf der Couch liegt die Flickendecke ihrer Mutter, auf dem Tisch der Kaugummi-Roboter, und unter dem Fenster steht der kleine graue Esel mit Glocke und Lastensäcken, den sie in einem Souvenirgeschäft auf Zypern fand, in einer Holztonne, vergraben unter Hunderten von Zwillingsschwestern und -brüdern.
    Mikileraq tastet nach der Decke, macht es sich unter den Falten gemütlich und gewöhnt sich an die Nacht. Sie wartet auf die Sterne, die sich zeigen, sobald die Augen die richtige Temperatur erreicht haben, wartet auf ihr Schimmern, Flirren, ihren Dialog mit der Stille.
    Sie sitzt im schwachen Schein des Straßenlichts, das durch das Fenster fällt, wartet und bereut; bereut, dass sie die Tochter ihrer Nichte adoptiert hat. Sie hatte keine andere Wahl, das Mädchen wäre sonst ins Waisenhaus gekommen, niemand konnte es aufziehen, weder die Mutter, die erst sechzehn Jahre alt ist, noch der Vater, ebenfalls sechzehn. Sie hat gesagt, dass Britt nach Dänemark gehen und dort ihre Ausbildung abschließen solle, Britt hat mit ihr gestritten, sie hat gebettelt, geweint, sie wolle das Kind selbst aufziehen, sie sei stolz darauf, Mutter zu sein, als Mutter werde sie respektiert, und fast hatte sie die Familie überzeugt, als Majas Vater gefunden wurde, mit aufgeschnittenen Pulsadern, den Kopf noch in der Schlinge, die an einem Bettpfosten hing. Er wurde liegend gefunden, der Hinterkopf knapp über dem Teppich; im Raum zahlreiche Blutflecken.
    Wenn Maja schläft, ist ihr Mund leicht geöffnet und der Körper zur Seite gedreht, dann erinnert sie Mikileraq an Britt, das gleiche Profil, denkt sie und traut dieser Ruhe nicht, Maja wird sicher noch einmal aufwachen, dann will sie in der Nähe sein. Sie gesteht sich nicht ein, dass dies bloß ein Vorwand dafür ist, nicht in die Schlaflosigkeit zurückkehren zu müssen.
    Auf dem Rücken trug Julie den Rucksack, mit dem sie bei Jens eingezogen war. Sie ging stadtauswärts, weil sie von der Schule nicht nach Hause wollte und nicht wusste, wohin sie sonst gehen sollte. Sie folgte der Straße bis an ihr Ende, wissend, dass sie im Nichts enden wird, wie es Straßen in Amarâq üblicherweise tun: dass der Asphaltboden eine fransige Kante hinterlassen wird und Erde, Steinchen unter ihm hervorquellen werden, unverdeckt, unverkleidet, dass aber das Ende beiläufig auftauchen wird, als wäre nichts normaler als eine Straße, die plötzlich aufhört.
    Vielleicht aber ist Amarâq nicht das Ende, sondern der Anfang der Welt. Die Funktion eines Weltenbeginns kann doch nur darin liegen, viele Wege in die Welt zu schaffen, damit sich der Ursprung vergrößert, also muss es auch Straßen geben, die noch nicht lang genug sind, Straßen, die im Nirgendwo aufhören, die noch Zeit brauchen, um zu wachsen, wie in Amarâq. In diesem Fall müssten die Bezeichnungen anders lauten: Die Ausläufer wären Anläufer und überall wäre das Gegenteil von Nichts, überall wären die Anläufer von Etwas, chaotisch zwar, aber erkennbar, auf gewisse Weise geordnet.
    In diesem Fall würde sich Julie auf einem Anläufer bewegen, der noch nicht angesprungen ist, der zwar bis zur Küste führen sollte, aber noch nicht so weit gediehen ist. An seinem Ende würde sie sich auf den unsichtbaren Abschnitt der Straße setzen, auf den Kies –
    weil sie den Boden unter den Füßen verloren hat.

4    Du hast sie umgebracht.
    Niels Miteq nimmt einen Schluck aus der Bierdose, ehe er sie zerdrückt und zu den anderen in die gegenüberliegende Ecke des Zimmers wirft.
    Du hast von einem Schiff geträumt, das an einem Felsen zerschellt, bevor es an Land gespült wird, und genau das ist passiert, dein Traum hat sich über das Schiff gelegt, es in einen Sturm geraten und kentern lassen. So ist die gesamte Mannschaft ertrunken, und es ist deine Schuld, denn es war dein Traum.
    Er weicht Lars Kilimis Blick aus und fixiert das Notizheft in seinem Schoß, das Buch der Träume , an dem er seit seinem achten Lebensjahr schreibt und das Erkenntnisse beherbergt wie Kurzlebige
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