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Anatomie Einer Nacht

Anatomie Einer Nacht

Titel: Anatomie Einer Nacht
Autoren: Anna Kim
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Abgrund falle.
    Zunächst erkenne ich sie nicht, es ist mir nicht möglich, meine Augen scharfzustellen, obwohl ich mich sehr bemühe, dann aber, mit einem Mal, sehe ich sie. Es sind meine Großmutter, meine Freunde, auch du, ihr steht an einer Klippe, steht eng beieinander, einer hinter dem anderen wie Dominosteine. Plötzlich kommt Wind auf, er klingt wie das Jaulen eines Hundes, und der Erste in der Reihe beugt sich nach vorne, ich versuche, ihn aufzuhalten, ich greife nach ihm, aber meine Arme bleiben in der Luft stecken, und noch bevor sie ihn berühren können, stürzt er in die Tiefe und mit ihm die ganze Gruppe, einfach so, als wäre nie etwas anderes möglich gewesen.
    Nur das Mondlicht erhellt ein paar Punkte im Raum: die beiden hinteren Herdplatten, die Stuhlkante. Sivke tastet sich durch das Zimmer, das nun länglicher erscheint, als wäre es gewachsen und hätte zugleich an Tiefe gewonnen, jeder Schritt birgt ein Risiko in sich. Sie bleibt stehen, am liebsten würde sie sich auf den Boden setzen und warten, bis es hell wird. Sie weiß, dass sie ein paar Minuten brauchen wird, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Sie schließt die Augen und hört auf ihren Atem, ein, aus, ein, aus, sie zählt bis dreißig, dann blinzelt sie in eine blaue Landschaft. Das weißgelbe Mondlicht, gemischt mit dem Schwarz der Nacht, ergibt ein Blauschwarz, das alles Sichtbare in eine homogene Masse, in eine Ebene verwandelt, und die Finsternis, die vorher durch das Licht ausgesperrt war, lässt sich nicht länger verdrängen, lediglich die Kanten und Ecken, die sich ihrem Einheitsschatten widersetzen und ihren eigenen einfordern, stechen heraus, sie sind die Wegweiser, die Sivke braucht, um bis zur Haustür zu gelangen.
    Sie geht vorsichtig die Küchenzeile entlang bis zur Fußmatte, der Eingang ist in völlige Dunkelheit getaucht, sie streckt ihre Hand aus, langsam, und berührt die Wand, tastet die Tapete entlang bis zu einer Leiste, danach weiter geradeaus und etwas südlich, bis sie den Türknauf findet. Sie dreht ihn im Uhrzeigersinn, aber sie hört kein Knacksen, das das Öffnen begleitet, sie fingert nach dem Schlüssel, hat Jens sie eingesperrt? Er steckt im Schloss. Sie dreht ihn in die eine, dann in die andere Richtung. Die Tür springt nicht auf, sie bewegt sich nicht einmal, so sehr Sivke auch an ihr rüttelt –
    obwohl, sie öffnet sich einen Spaltbreit, nicht weiter, etwas ist im Weg.
    Liebe in Amarâq ist einerseits ein Zeitvertreib, dem jeder nachgeht, weil die Auswahl an Tätigkeiten, Hobbys, beschränkt ist und man meint, dass Liebe wiederholbar sei, andererseits nehmen die Bewohner das Lieben sehr ernst, da es für sie die Hauptsache dessen ist, was ihr Leben bedeutsam macht, sie klammern sich geradezu an sie, denn sie ist anders als die Liebe anderswo, sie ist Rettung, Erlösung: Sie öffnet die Isolation, die Enge, verkürzt die Entfernung zum Horizont und glättet den Himmel. Mit einem Mal erscheint die Erde endlich, man selbst als Teil dieser Welt und nicht wie sonst ausgestoßen.
    Aber Liebe in Amarâq ist auch ein Verhängnis, da man alles auf eine Karte setzt, man hat ja nichts anderes als sein Leben, und gerade diese Unbedingtheit ist es, die angesichts all der Erwartungen und Forderungen das Glück zu lieben in Unglück verwandelt.
    Das Verhängnisvolle am Unglück ist, dass es vorgibt, dauerhaft zu sein; über eine ähnliche Begabung verfügt der Schmerz, der sich noch dazu mit Legitimation bewaffnet, um den Augenblick in Ewigkeit zu transformieren.
    Julie konnte sich nicht entschließen, das Ende der Straße zu verlassen: Sie meinte, an diese Stelle zu gehören, die durch die unvollendete Asphaltierung zerrissen wirkte. Sie legte sich auf einen Stein, groß und flach wie ein Bett, sie glaubte, sie habe eine Verwandlung durchgemacht, sie sei eine andere geworden, nunmehr fremd in ihrer gewohnten Umgebung, ihr schien, als habe sich die Welt verändert, als wäre an der Stelle der alten eine neue entstanden, von einem Tag auf den anderen, auch die Menschen wären ausgetauscht worden, vielleicht aber sah sie sie zum ersten Mal so, wie sie wirklich waren. Plötzlich war ihr das Fremde vertrauter als das Vertraute, und es schien unmöglich, dass diese Metamorphose, die sich erste Liebe nennt, schon wieder beendet sein sollte, sie war doch noch mittendrin, sie hatte die Verpuppung nicht abgeschlossen. Den Geschmack des Herkömmlichen hatte sie vergessen, das Neue hingegen kannte sie nur teilweise, sie
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