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Anarchy in the UKR

Anarchy in the UKR

Titel: Anarchy in the UKR
Autoren: Serhij Zhadan
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unerwartete Fortsetzung und einen so traurigen Schluß hatten. Du fängst an, in Kindersachen, Tagebüchern und Fotoalben zu wühlen, bleibst zwangsläufig hängen, zwangsläufig stößt du auf etwas, das dir Schauer über den Rücken jagt und dein Gesicht erstarren läßt vor Ärger und Erregung. Jede Rückkehr in die Kindheit nimmt ein schlimmes Ende, darum sitzen wir hier, trinken bis tief in die Nacht und versuchen zu reden, ist doch cool, cool, daß wir hergefahren sind, obwohl es eigentlich überhaupt nicht cool ist und die ganzen Reste dieser Kommunen in der Steppe und die von Knochen übersäten Felder in uns eine leichte Starre auslösen, so daß wir gar nicht anders können, als weiter zu trinken, vom Wetter zu reden und irgendwann darüber einzuschlafen.
    Mitten in der Nacht werden wir geweckt, ins Auto gesetzt und zum Bahnhof gebracht. Gegen ein Uhr kommt der Zug, er steht lange auf dem leeren nächtlichen Bahnhof, dann fährt er los, zuckelt unendlich langsam dahin, hält alle fünf Minuten, als wollte er mit seiner feuchten schwarzen Nase in der Augustnacht erschnüffeln, wo die verfluchten Schienen hinführen. Eigentlich standen wir mehr, als daß wir fuhren, wir waren in einen merkwürdigen Partisanenzug geraten, er hielt inmitten von Feldern und Ortschaften, ließ unsichtbare Ströme und Wirbel der nächtlichen Luft passieren, bremste an jedem Schacht – diesen dunklen, hohlen Schächten, die immer zahlreicher wurden, unsere Reise verwandelte sich nach und nach in eine gleichförmige Migration von Waggons in südwestlicher Richtung, es kamen immer mehr Passagiere, an jeder Station stiegen ganze Bergarbeiterfamilien zu, die einfach so durch den Donbass reisten und weiß der Himmel wonach suchten, was kannst du hier schon finden, in diesem Donbass, wo kommst du an mit einem Zug, der beinahe nicht fährt, du fährst im Donbass los und kommst im Donbass an, trotzdem wurden die Leute immer mehr, viele von ihnen kannte ich noch aus meiner Kindheit, sie hatten sich kaum verändert, sogar an die kurzärmeligen Hemden und die ausgeleierten T-Shirts konnte ich mich noch erinnern, denn die waren aus den Achtzigern, an die ich mich bestens erinnere. Männerkleidung wird länger getragen und bleibt besser im Gedächtnis, sie hat was Stilvolles, Männer im fortgeschrittenen Alter haben ein asketisches Verhältnis zu ihrer Kleidung, nicht nachlässig, sondern asketisch, sie kultivieren einen gewissen proletarischen Charme, die Kleidung ist einfach ein Teil von dir, und auch die anderen nehmen dich und deine Kleidung als Einheit wahr, sie läßt sich nicht trennen von deiner Erfahrung und Physiologie, selbst wenn du nicht weißt, was das ist.
    Jetzt halten wir schon wieder an einem Schacht, verdammt, hinter den Fenstern kosmische Landschaften und die andere Seite des Mondes, seit dem Morgen, als wir in den richtigen Donbass einfuhren, begleiten uns auf beiden Seiten Berge aus Eisenerz, Abraumhalden, Grünstreifen, die Landschaft übertreibt mit ihrer Expressivität, wäre ich mit der Ausgestaltung der umliegenden Territorien betraut, ich würde sparsamer damit umgehen, wozu das ganze Eisen und das Grün, wozu die ganzen Bergwerke und vor allem, wozu an den Bergwerken so ewig halten?
    In Donezk holte uns unser Freund Weiß ab, Hauptmann der Miliz und Autor historischer Romane, Dr. phil. In seinen Romanen murkste dauernd einer den anderen ab, es floß viel Blut und Adrenalin, und als negative Helden waren neben realen Tataren, Polen oder Janitscharen auch Vampire, Werwölfe, Kyklopen und andere Feinde des ukrainischen Volkes reichlich vertreten, was mir besonders gefiel. Als ich Weiß vorschlug, zusammen nach Guljaj-Pole zu fahren, sagte er gleich zu, wir wollten ihn in Donezk abholen und dann weitersehen.
    Ich war bislang nur einmal in Donezk gewesen, als Kind, im Sommer 1984, wieso ich mich an das Jahr erinnere? Im Jahr davor hatte Schachtjor Donezk den sowjetischen Pokal geholt, an allen Donezker Zeitungskiosken konnte man ein Buch über den Sieg von Schachtjor kaufen, ich kaufte es damals auch. Komisch, daß ich mich an die Stadt überhaupt nicht mehr erinnere, ich erinnere mich noch an das große Autowerk in einer Vorstadt, in dem wir einen neuen Kipper abholen und nach Hause überführen sollten, apropos, fällt mir da gerade ein, wer war eigentlich damals der Direktor des Autowerks? Mein Alter holte immer mal Autos ab, und manchmal nahm er mich mit, in Kindertagen war das ein unglaubliches Privileg – als
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