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Anarchy in the UKR

Anarchy in the UKR

Titel: Anarchy in the UKR
Autoren: Serhij Zhadan
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unterwegs bist, erkennst du ab dem dritten Tag die Einwohner wieder, und das Schlimmste ist, daß auch sie dich wiedererkennen, denn das wird nach und nach peinlich, in ihren Augen bist du ein Penner, wenn nicht gar ein Tourist mit Kamera, der sie beobachtet wie Eingeborene und in ihren Gesichtern nach Spuren des Anarchosyndikalismus sucht, außer Spuren von Alkoholismus allerdings nichts findet. Irgendwie ist es unfair: Auf der einen Seite du mit deiner hirnrissigen Begeisterung und deiner aufdringlichen Fragerei bei Hinz und Kunz, ob ihr Großvater nicht unter Machno gekämpft hat, auf der anderen Seite sie, erschöpft von dem ganzen Zirkus, aufgefressen vom irdischen Kampf ums Dasein unter den Bedingungen der Marktwirtschaft – was für dich Geschichte und ideologische Überzeugungen sind, ist für die meisten von ihnen der Ursprung privaten Unternehmertums und eines uneingestandenen schlechten Gewissens. Deshalb begegnen euch alle, wenn nicht ablehnend, so doch ohne jeden Enthusiasmus – die zwei abgewrackten Alkis, mit denen wir am Flußufer Selbstgebrannten getrunken haben (die Brücke, die die Aufständischen benutzt hatten, gab es nicht mehr, der Fluß war ganz schmal geworden, die Alkis saßen am Ufer und schwiegen traurig; als wir sie zu einem Schluck einluden, waren sie sofort einverstanden, einer nahm das Geld und verschwand für immer, wie wir dachten, kam aber doch zurück, wir kippten schnell das Zeug hinunter und gingen baden; die Alkis blieben draußen, sahen uns gleichgültig und teilnahmslos zu, jeder sieht im Fluß seine eigenen Ertrunkenen, zu ihren gehörten wir nicht); die Museumsdirektorin, die uns müde etwas erklärte und sich entschuldigte, daß sie ins Büro müsse, um bei der Wahlvorbereitung zu helfen, und sich nicht einmal dafür interessierte, wen wir wählen wollten; die Verkäuferin, die bis fünf Uhr in ihrem Zeitungskiosk schlief und ihn dann mit einem Hängeschloß zusperrte, sogar sie, obwohl wir bei ihr Zeitungen kauften und vielleicht überhaupt die einzigen waren, die ihre Lokalpresse kauften; und sogar der Kellner im Bahnhofsrestaurant, der uns täglich sah, wir kamen jeden Tag zu ihm wie zu einem alten Bekannten, aber auch er sah uns gleichgültig an; in Kleinstädten sind die Leute ruhiger, sie wissen im voraus, was mit dir passieren wird, sie wissen vom ersten Augenblick an, daß du auf diesen staubigen Straßen, zwischen den alten, zerschossenen Häusern sowieso nichts finden wirst, du findest nichts und kannst auch nichts finden, weil du nicht von hier bist, bleibt höchstens die Frage, wie lange du es in deinem Hotel aushältst, wie lange dein Geld, dein Gras, deine Konserven reichen, um in diesem mörderischen Hotel durchzuhalten, das angefüllt ist von schweren Traumbildern und dem Kölnischwassergeruch, das ist die ganze Frage – ob du heute einfach mit dem Abendbus abhaust, weg von den schwarzen Löchern in der Luft, in der deine ganze Geschichte Platz findet, oder ob du weiter durch ihre Straßen streichen willst, im Park sitzen, Fassaden von Häusern knipsen, in denen sich die Verwaltungsorgane der Anarchisten befunden haben, über den städtischen Friedhof schlendern und die Namen auf den Gräbern lesen, die prominentesten erkennen.
    Ich glaube, das Entscheidende an ihnen verstehe ich nicht: ihre Teilnahmslosigkeit, ihr kollektives Gedächtnis, klar habe ich hier keine auferstandenen Schatten – verflucht und ohne Sterbesegen – erwartet, ich war vorbereitet auf ihre Distanziertheit, ihr totales Mißtrauen, was hätte ich denn anderes erwarten können? – Um etwas anderes zu erwarten, hätte ich zumindest in ihrer im Sommer warmen und im Herbst windigen Stadt zur Welt gekommen sein müssen, ich hätte als Schüler Blumen am Denkmal für die Befreier niederlegen müssen, in dem Wissen, auf wessen Knochen das Denkmal errichtet wurde, ich hätte beobachten müssen, wie alljährlich die Maulbeeren herunterfallen und Straßenstaub die Kirschbäume bedeckt, hätte morgens auf den Markt oder ins Büro gehen, meine eigene Firma haben, Kinder großziehen, die Passanten grüßen, an Sommerabenden, lang wie ein Blues, zum Fluß hinuntergehen, schweigend dasitzen, auf das gegenüberliegende Ufer blicken müssen, an dem es, genau wie an deinem, nichts gibt, weder Vergangenheit noch Gegenwart, um zu begreifen, daß du, selbst wenn die alte Brücke noch existierte, kaum Lust hättest, zum anderen Ufer hinüberzugehen, weil für dich eigentlich – und auch das werde ich
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