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Anarchy in the UKR

Anarchy in the UKR

Titel: Anarchy in the UKR
Autoren: Serhij Zhadan
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nie verstehen – von diesem Ufer, von dieser Brücke, von dieser Erinnerung kein Weg wegführt.
     
8. Auch diesmal hättest du sterben können.
    Er hatte ein gutmütiges und tapferes Gesicht, das Gesicht eines dreißigjährigen Mannes, dem man locker vierzig geben würde, weil er die Sonne nicht scheute und keinen Wodka ausließ, heute schon gar nicht. Erschöpft und traurig sah er aus, seine Traurigkeit hatte etwas Bitteres und Zartes, Intimes, man sah ihm an, daß er Probleme mit seiner Alten hatte und daß er sie, seine Alte, liebte, während sie, die Ratte, seine zarte, unverdorbene Seele quälte, die Seele eines dreißigjährigen Mannes, der im Leben mit allem klarkam – mit Blut und Schmutz, Arbeit, Alk, Erniedrigung und Rache, nur nicht mit seiner inneren Zartheit, da konnte er der Welt einfach nichts entgegensetzen, außer sich am Morgen zuzulöten und durch die sommerstarre Stadt zu rasen, auf der Suche nach Trost und mehr Alkohol und dabei natürlich weder das eine noch das andere zu finden.
    Gestern nachmittag wurde unser Freund Weiß zurückbeordert, ein dienstlicher Anruf, Weiß sollte früh im Institut sein, einfach nicht zu fahren, wie ich ihm vorschlug, kam für ihn nicht in Frage. Mitten in der Nacht ging er zur Schnellstraße, stand ein paar Stunden, kam dann aber doch irgendwie weg. Am nächsten Morgen beschlossen Ljoschka und ich, auch zu fahren. Alles, was es zu sehen gab, hatten wir uns mehrmals angeschaut, die Friseuse und die Zeitungsverkäuferin grüßten uns, wenn sie uns sahen, die Museumsdirektorin wechselte die Straßenseite, die Kellner wußten im voraus, welchen Wodka wir bestellen würden. Der Überraschungseffekt war vorbei, nach einer durchzechten Woche brach der graue Alltag an, den letzten Tag hatte ich im Hotel gelegen, da ich, wie ich dachte, an einem allergischen Anfall litt. Wir wollten nach Norden, wo sich 1918 die ersten aufständischen Verbände formiert hatten. Dorthin fuhren keine Busse, in dieser Hinsicht hatte sich seit 1918 wenig geändert. Was soll's, dachten wir, dann eben ohne Busse, stellen wir uns an die Schnellstraße und halten irgendwas an. An der Ausfahrt standen zwei Tussis, die sich was zuflüsterten, als sie uns erblickten, aber es sah nicht so aus, als ob sie irgendwohin wollten. Und uns wollte keiner mitnehmen. In der Nähe war ein kleiner Fluß, über uns hingen niedrige Wolken, das Gras war staubig, die Straße leer.
    Eigentlich hatte er gar nicht anhalten wollen. Er ertrank in Schwermut und Alkohol, sein gesellschaftlicher Status war ihm egal, sein familiärer Status – wie immer der aussehen mochte – war ihm egal, die Verkehrsregeln waren ihm egal, er raste durch die nachmittägliche Stadt und wollte mit seinem Lada in eine dunkle, entlegene Ecke abtauchen, um der Verzweiflung zu entkommen und auf bessere Zeiten zu warten. Einer Eingebung folgend, bog er schließlich von der Hauptstraße in Richtung Fabrik ab, am Verkehrskontrollposten vorbei (der ihn merkwürdigerweise nicht anhielt), vorbei an den Lagerhallen, dann noch einmal links und bis zum Ortsausgang, wo er uns sah. Er hatte, wie gesagt, eigentlich gar nicht anhalten wollen. Aber irgendwas rastete im letzten Moment ein in seinem von Bitterkeit vernebelten Hirn, und er stieg in die Eisen. Das hört sich gut an, er stieg in die Eisen, aber er war eigentlich gar nicht imstande, schnell und entschlossen auf die Bremse zu treten, er bremste eher verzweifelt und zögerlich, der Lada kam von der Straße ab, schlitterte gut zwanzig Meter weit und verreckte mit tiefem Blubbern. Wir liefen hin. Nimmst du uns mit? fragten wir. Er dachte nach. Worüber er wohl nachdachte? Weiß der Himmel, worüber Leute in seinem Zustand am Steuer nachdenken, ich kann nur sagen, daß er nicht zweifelte, aus seinen Augen sprach kein Zweifel, es war ein allgemeines Unverständnis – wer wir sind und wer er ist, warum er angehalten hat. Gut, sagte er. Wieviel? fragten wir. Nichts, sagt er. Wie nichts? Eben nichts, zahlt fürs Benzin und ab geht's, wohin ihr wollt. Wir dachten ebenfalls nach. Okay, sagten wir, na los, wir stiegen ein, machten die Türen zu, das Auto fuhr los, und da verstanden wir. Ein Bier hatte er schon ausgetrunken, das zweite gab er mir in die Hand. Halt mal, sagte er. Wie ist es denn mit dem Trinken am Steuer? fragte ich. Ich hab Probleme, sagte er, mir geht's beschissen. Ach so, sagte ich, na, dann. Der Lada klapperte gen Horizont, fuhr zweihundert Meter und verreckte. Was ist das denn? fragte
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