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Anarchy in the UKR

Anarchy in the UKR

Titel: Anarchy in the UKR
Autoren: Serhij Zhadan
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statt dessen mit Steinen bewerfen, nachdem sie alle Denkmäler abgebrochen haben und an deine Vergangenheit nicht glauben, weil sie selbst keine haben.
     
5. Alles, was spannend ist,
    spielt sich auf Bahnhöfen ab, und je kleiner der Bahnhof, um so mehr Spannendes. Es ist ein großer Fehler zu glauben, der Staat hätte Einfluß, Einfluß hat der Bahnhofsvorsteher, der in seinem Büro sitzt und den nächsten Güterzug von West nach Ost passieren läßt, sechsunddreißig rote Viehwaggons mit Zement, Brot und Stoffen beladen, verdammt, die – monatelang auf Abstellgleisen und Depots zwischengelagert – schließlich aus dem Frachtbrief gestrichen und aus der schwarzen Kasse bezahlt werden, da ist jeder Staat machtlos; Bahnhöfe funktionieren sogar zu Kriegszeiten, vielleicht sind sie das einzige, was im Krieg überhaupt noch funktioniert, unser Sosjura war mit seinen Barmherzigen Schwestern ja auch vorwiegend auf Bahnhöfen zugange, Krieg tut dem keinen Abbruch, nicht mal Bürgerkrieg. Die Luft über den Bahndämmen ist eigenartig, sie ist dünner von der Durchfahrt Hunderter Waggons mit Tausenden von Menschen, die Luft über einem Zug ist offen wie eine Vene, die Luft reicht nicht lange, deshalb bist du unterwegs von einem nächtlichen Bahnhof zum nächsten, von einem Haltepunkt zum nächsten, um diesen süßen, knappen Sauerstoff zu erhaschen, dessen genaue Dosis dir das Infrastrukturministerium vorschreibt.
    Ich hatte schon immer ein intimes Verhältnis zur Eisenbahn, nicht zur Eisenbahn als Fortbewegungsmittel, sondern ganz materiell – zu Schienen, Bahndämmen, Waggons und Signalen, zu den Dingen, die wirklich solide sind, Bahnhöfe mochte ich schon immer, die sommerlichen Bahnhöfe des nördlichen Donbass, wo Krethi und Plethi zusammenkam, Alkoholiker und Huren, Veteranen und alte Kumpel, unsere erschöpften Väter, die sich an lauen Juliabenden auf dem kleinen Bahnhof mit seinen dicken Säulen im Nachkriegsstil trafen, um im Bistro warmen Wodka zu trinken, den Staatssender zu hören, was gibt es Schöneres, manchmal gerieten sie sich in die Haare und gingen mit ihren Taschenmessern aufeinander los, mit denen sie zuvor Grünzeug geschnitten und Ketchupdosen geöffnet hatten; am Bahnhof endete eine der drei Stadtbuslinien, von Zeit zu Zeit kam so ein gelber Bus angezuckelt, die Passagiere sprangen heraus, meine älteren Freunde führten an der Endhaltestelle gern Leibesvisitationen durch, sie blockierten die Türen und nahmen den schockierten Schülern des Agrartechnikums, die am Abend in ihre Dörfer zurück wollten, die letzte Kohle ab, die besonders schockierten wurden hinters Kaufhaus geschleppt, ins frische, warme Juligras gestoßen und so lange traktiert, bis ihre weißen, zerrissenen Hemden voller Blut- und Grasflecken waren; um uns scherten sie sich nicht, wir waren noch zu klein für solche Aktionen, für uns war das Leben ein einziger Bahnhof, ein süßer, aufgebrochener Apfel, saftig, sonnengereift, wurmstichig; gegen sieben kam der Schnellzug aus Moskau, der in den Süden fuhr, auf die Krim, die Kinder liefen auf den Bahnsteig eins, es gab nur eins und zwei, sie liefen auf Bahnsteig eins und schauten zur Brücke, wo über dem hohen Gras die Luft flimmerte und die Signale leuchteten, zwischen denen ab und zu die orange Jacke eines Eisenbahners aufleuchtete, der wie der Teufel persönlich die Weichen und Signale stellte und damit den Strom segnete, der nach Süden ging, ans Meer, verdammt, auf die Krim, die noch keiner von uns gesehen hatte. Der Zug blies die Hitze, den Staub und das Gras auseinander, das unter den Bohlen scharf roch, er hielt etwa fünf Minuten, aus den Wagen strömte ein aufgekratztes hauptstädtisches Publikum, kaufte am Kiosk Zeitungen vom Vortag und im Bistro warmen Wodka, junge Mädchen in Badeanzügen und Sonnenbrillen schauten verwundert in unsere Kindergesichter, in die gegerbten, gebräunten Gesichter unserer Väter, auf die stolzen roten Spruchbänder am Bahnhofsgebäude, die in einer für sie leicht unverständlichen Sprache verfaßt waren, sie schauten sich um, und unser Staub verfing sich in ihren Haaren, unser Unkraut kroch ihnen zwischen die Zehen, sie gingen den Bahnsteig auf und ab und blieben in unserem Gedächtnis, das ohnehin schon mit schönen und heldenhaften Gestalten aus dem Leben, aus Träumen und Filmen bevölkert war.
    Am schmerzhaftesten und traurigsten war das Bewußtsein von der Vergänglichkeit, das physische Durchleben dieser wenigen Minuten, wenn die
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