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Anarchy in the UKR

Anarchy in the UKR

Titel: Anarchy in the UKR
Autoren: Serhij Zhadan
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noch ein Café, man konnte dieses gummiartige Gebäck kaufen und Chupa Chups, die in dem grauen Ambiente grell hervorstachen. Irgendwie hatte ich auf das Café gehofft, auf die Chupa Chups, die Chupa Chups gingen mir eigentlich am Arsch vorbei, aber ich dachte mir: Okay, dann ist das Dorf eben von der Zivilisation abgeschnitten, die Sitze zerschlissen, der Lautsprecher kaputt, juckt mich nicht, juckt mich nicht, wenn der Lautsprecher kaputt ist, echt nicht, aber das Café, das Café muß doch verdammt noch mal auf sein, und wo ein Café ist, gibt es auch so etwas wie kulturelles Leben: Wodka, Bouletten, Nutten, irgendwas, zumindest Strom und Kommunikation.
    Aber der Kapitalismus und sein gemästeter Leib haben es nicht bis in die kargen ländlichen Regionen geschafft, Chupa Chups, einfach lächerlich. Der Bahnhof war zu, an der Tür hing ein Schloß, alles vergebens. Wir gingen um das dunkle Gebäude herum und traten auf die Schnellstraße. Neben dem Bahnhofsgebäude stand ein Lieferwagen, da schliefen offenbar Fernfahrer, um sich am Morgen mit neuer Kraft nach Rostow oder in das Kuban aufzumachen, Kohle ranschaffen, das Geschäft aufziehen, ihren Träumen entgegen, ihrem Tod entgegen.
    Und so stehen wir nun fast am Ortsausgang, 100 Meter vor uns der Bahnübergang, und die Straße neben uns so schwarz, daß ich, wenn es nicht Schwachsinn wäre, zum Bahnhof zurückkehren würde, zu den Menschen, den Methanolfässern, zum Geist von Wolodymyr Mykolajowytsch, der wohl von Zeit zu Zeit den Bahnhof überfliegt, zu seiner »Dritten Kompanie« abbiegt und da oben in Erinnerung an seine Sanitätszüge und den dritten Bauernaufstand einen tiefen Seufzer tut. Es ist jetzt gegen fünf Uhr morgens, wir haben uns neben einem Zaun auf die Erde fallen lassen, in einem Haus mit geschlossenen Fenstern läuft der Fernseher, komische Typen leben in dem Nest, denke ich so, ohne Café und Lautsprecher, ohne Nutten und Chupa Chups, hocken in ihren Buden, die Arschlöcher, alles verriegelt und verrammelt, und hängen bis in die Puppen vor der Glotze, was die sich wohl reinziehen? Was wollen sie sehen? Die aktuellen Nachrichten? Was wollen sie in den Nachrichten hören? Was erwarten sie von dieser Welt, vor der sie sich hinter verriegelten Türen und verrammelten Fenstern verstecken? Und was kann die Welt ihnen bieten, womit kann die Welt diesen komischen Typen dienen, die morgens um fünf vor der Glotze hängen? Basketball? Na klar, Basketball wahrscheinlich, was sonst. Auf einmal kommt hinter dem Gebäude eine merkwürdige Gestalt hervor, ein fahler, in Gedanken versunkener Typ, ein schnapsgetränkter Nachtfalter, dem der Lieferwagen ebenfalls aufgefallen ist, genau wie uns, er schleicht um ihn herum, traut sich aber nicht näher heran, und auf einmal hat er uns entdeckt. Oh, denke ich, dem ist nicht so nach Basketball, was den wohl interessiert? Hey, Jungs, ruft er uns zu, wo gibt's denn hier was zu saufen? Wo's hier was zu saufen gibt? fragen wir zurück, ja, zu saufen, wo gibt's denn hier morgens um fünf was zu saufen? der kann doch nicht von hier sein bei der schlechten Ortskenntnis und den normalen Bedürfnissen, auf dem Bahnhof, sage ich zu ihm, und hier? Hier nicht. Hier ist tote Hose, siehst du doch, alles dicht, gucken alle Basketball, und wie komm ich zum Bahnhof? Am besten die Gleise lang, sage ich, da vorn ist der Übergang, dann nach links, ungefähr zwanzig Minuten, dann kommt der Bahnhof. Dort gibt's was zu saufen. Und paß gut auf, nicht nach rechts abkommen, sonst landest du im Donbass.
    Als er weg war, fragte ich mich, was dieser Typ um fünf Uhr morgens auf dem Busbahnhof wirklich wollte. Sich was zu saufen besorgen? War es vielleicht ein Wahnsinniger, ein Serientäter, ein Autobahnmörder? Unerforschlich sind deine Wege, o Herr, was für sinnlose Begegnungen bereitest du uns auf unseren nicht weniger sinnlosen Touren. In einer Stunde geht der erste Bus nach Luhansk, wir fallen auf die hintersten Sitze und verschlafen unsere sechzig Kilometer bis in den nächsten Ort, wir verschlafen überhaupt alles, was es zu verschlafen gibt, ohne dabei wirklich etwas zu verpassen.
     
4. Freimaurer im Alltag.
    Noch eine Heldenstadt, Zuflucht für Jungsträume und dunkle Leidenschaften, die die Moral und das Gewissen ihrer Bewohner untergraben, rund vierzigtausend Menschen leben hier, vier Mittelschulen, eine davon habe ich besucht, eine mit Blech verkleidete Kirche aus dem 19. Jahrhundert, oder wie beschreibt man das am besten,
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