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Anarchy in the UKR

Anarchy in the UKR

Titel: Anarchy in the UKR
Autoren: Serhij Zhadan
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jungen Frauen mit den blonden Haaren und dunklen Augen ängstlich zu dir herabstiegen, dein Territorium betraten, ein Territorium, das rechtmäßig dir gehörte, für das du zuständig warst und das du ernsthaft für dein eigenes hieltest, doch wenn sie es auch nur für ein paar Minuten betraten, spürte deine Haut, wie der Raum ins Wanken geriet und die Zeit zu zerfallen begann, wie sie winzige, fast unsichtbare Risse bekam, die kaum jemand bemerkte, in denen sofort das ganze Unkraut unserer Bahnsteige hängenblieb, der ganze zertrampelte Löwenzahn, er blieb hängen und setzte sich fest wie ein Zeichen, mit dem du die Erinnerung an diesen Tag, diesen Sommer und den dunkelroten Nagellack auf ihren Zehen wachrufen kannst.
    In unseren Gesichtern sahen sie nichts, sie nahmen absolut nichts wahr in den Augen des zurückgebliebenen Provinzvolks, das gierig jede ihrer Bewegungen, jeden Atemzug verfolgte, sie kauften sich Eiswaffeln oder Zeitschriften und verschwanden in der Dunkelheit, die sich von unserer Stadt nach Süden, bis ans Meer hinzog, und dort hatten sie den kleinen Bahnhof längst vergessen, er war nur eine von vielen, vielen Stationen in ihrem langen Leben voller Zärtlichkeit, Liebe und etwas, wovon wir damals noch keine Ahnung hatten; aber hätten sie uns aufmerksamer angeschaut, wäre ihnen sicher viel Interessantes aufgefallen, besonders in unseren staunenden und weit aufgerissenen Augen, denn in diesem Alter geht das, was du siehst, nicht spurlos vorüber, und hätten sie in unsere Augen geschaut, einfach nur aufmerksam geschaut, hätten sie die endlosen Erdölzüge entdecken können, die Tag für Tag durch die Stadt rollten, und die Vögel, die auf hallenden, verstaubten Dachböden um uns herum flatterten, die furchtsamen Bewegungen unserer Mitschülerinnen und die braungebrannten Oberkörper unserer älteren Brüder und die erstickte Leidenschaft unserer Väter, die lange in unseren Augen blieb und deren Farbe änderte.
    Der Zug setzte sich in Bewegung, im Bistro ging das Trinken weiter, über den Bahnsteig breitete sich die warme Dämmerung, es wurde dunkel und still, und die Luft war so leer, sicher weil die glühend heißen Waggons fort waren, und du bist heimgegangen oder zum Fußballplatz und hast gespielt, bis die Dunkelheit den Ball vollends verschluckte und du mit der Schuhspitze auf Klumpen von Dunkel zielen mußtest, um doch noch den Sieg davonzutragen, aber wen hättest du besiegen sollen in dieser Dämmerung, in dieser Dunkelheit, wenn der Ball nicht mehr zu erkennen war und der Gegner noch weniger, du hattest einfach keine Gegner in diesem Alter, in dieser Stadt, unter diesem schwarzen Himmel, auf dem dunklen, zertrampelten Platz, deine Gegner kamen später, zu einer Zeit, als die alten Freunde und die meisten Bekannten, die Sonne von den Bahnhöfen und die Spruchbänder von den Nachkriegsfassaden verschwunden waren, als die Fußballmannschaften sich auflösten, in denen du gespielt hattest, und keine neuen mehr zustande kamen, denn richtig siegreiche Mannschaften gibt es selten, wenn überhaupt.
    Aber selbst die Leere, die sich plötzlich vor uns auftat wie ein Briefkasten ohne Briefe und Zeitschriften, selbst sie konnte uns die Lust nicht nehmen, jeden Tag über die Bahnsteige zu ziehen, vielleicht war das einfach die Kindereisenbahn ins erwachsene Leben, wenn du am gleichen Ort zur gleichen Zeit alle Muster sehen kannst, nach denen das Leben abläuft, du begegnest dem Geruch des richtigen, erwachsenen Lebens; es riecht nach einer billigen Autoraststätte, nach alten, ölverschmierten Arbeitsklamotten und – für dich völlig überraschend – nach sowjetischem Parfüm und jugoslawischem Kaugummi, es hat überhaupt einen phantastischen Geruch, und selbst wenn die Kulisse, die Macht, das Land wechselt, in dem du lebst, bleibt der Geruch doch der gleiche, das Leben bleibt ja das gleiche, ganz egal, ob du selbst am Leben bleibst. Unsere Bahnhöfe hatten alles, was man brauchte, um sich ruhig und sicher zu fühlen – niedrige Kirschbäume und Schnaps in den umliegenden Bistros und Garküchen, Schmugglerbanden in den Lagerhallen und die schönsten Frauen unseres Städtchens, die mit Fernzügen zu unbekannten Zielen aufbrachen, aber immer alle, hörst du, alle wieder zurückkamen.
     
6. Die wahre Biographie des Sängers Kobzon.
    Versuch erst gar nicht zu verstehen, was da genau passiert ist, in deiner Kindheit, warum die meisten Geschichten, die dir deine Eltern erzählt haben, eine so
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