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Analog 2

Analog 2

Titel: Analog 2
Autoren: H. J. Alpers
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war gut in Physik gewesen. Er hätte mir seine Frage stellen können, wäre er der Meinung gewesen, sein Sohn würde sich auch nur einen Deut dafür interessieren.
    Plötzlich verspürte ich einen überwältigenden Wunsch, seinen Charakter zu kennen – teilzuhaben an dem, was er gedacht, geliebt und gewußt hatte, worauf er gehofft hatte. Aber was kann man aus einem Bündel abgetragener Kleider, ein paar halbgelesenen Büchern und einem Vierteldollar von 1978 schon erfahren?
    Ich öffnete die oberste Schublade des Schreibtischs und fand allerlei Gerümpel darin. Papierschnipsel, Gummibänder, eine halbvolle Schachtel Kreide. Ich lächelte angesichts der Kreide. Er war schon seit mehr als neun Jahren pensioniert gewesen, trotzdem hob er die Kreide auf. Pfeifenreiniger. Er hatte nicht mehr geraucht, seit man vor sechs Jahren Lungenkrebs diagnostiziert hatte, trotzdem hob er die Pfeifenreiniger auf. In der Schublade waren immer noch Tabakkrümel. Ich schloß sie wieder.
    Die linke obere Schublade enthielt blanke Papiere und Briefumschläge. Einige davon waren benutzt worden, was zeigte, daß der alte Mann noch mit irgend jemandem in Kontakt gestanden hatte. Ich öffnete die rechte obere Schublade. Sie quoll über vor Akten. Ich holte eine heraus und las das Deckblatt: Anderson, Mary – 1954/55. Ich schüttelte den Kopf. Wer sollte das sein, Mary Anderson? Hörte sich ganz nach Andy Hardys erstem Rendezvous an.
    In der Akte fand ich kindliches Gekritzel auf dreigelochtem, liniertem Papier. „Was ich letzten Sommer erlebt habe“ von Mary Anderson, 6. Klasse, Zimmer 4 B, Mr. Hall. Und was hatte Mary im Sommer 1954 getan?
    Kopfschüttelnd schloß ich die Akte. „Was bist du heute, Mary? Vielleicht eine Umweltschützerin?“ Ich blätterte den Rest der Akte durch. „Mein Lieblingstraum“ oder „Wie ich die Zukunft sehe“, „Was ich mir wünsche“, „Mein geheimer Freund“, „Worüber ich nachdenke“. Die Themen, die mein Vater vergeben hatte, waren etwa genauso phantasievoll wie der Schmant, mit dem ich mich in der sechsten Klasse hatte herumschlagen müssen. Ich legte die Akte auf den Schreibtisch und holte eine andere hervor.





Ich betrachtete das Deckblatt. „Nun, Randy Deever, aus dem Jahr 1954/55, was hast du über dich zu sagen?“ Nicht viel. Im letzten Sommer hatte er nicht viel getan. Stand morgens auf, aß, spielte, aß, spielte wieder, aß, sah fern, dann ging er zu Bett. Ich blätterte den Ordner durch, bis ich auf eine kurze Zeitungsmeldung stieß. Leutnant Randolph Deever, 1st Air Cavalry, U.S.A., vermißt bei einem Scharmützel bei Buon-bu-n’jang, Vietnam.
    Ich blätterte noch einmal durch Mary Andersons Ordner, diesmal sorgfältiger. Ich fand mehrere Klappentexte aus Büchern und Zeitungsmeldungen über eine Schriftstellerin namens Joy Frank. Und Mary Anderson ist Joy Frank, Romanautorin.
    Ein anderer Ordner. Stienmetz, Willy, 1954/55. Im Sommer 1954 wurde seine Mutter begraben. Im Sommer 1969 wurde er bei einer Anti-Kriegs-Demonstration getötet. Zu diesem Zeitpunkt hatte er bereits einen Doktortitel in Romanistik.
    Ich öffnete die Schublade ganz. Sie enthielt etwa fünfzehn Ordner. Aufzeichnungen über wenige von den etwa achtzig bis hundert Schülern, die er jährlich während seiner vierzigjährigen Unterrichtstätigkeit hatte. Ich lehnte mich zurück und dachte nach. Mein Vater hatte im Leben von etwa drei- bis viertausend Personen eine Rolle gespielt. Vierzig Jahre Unterricht, und doch hatte er nur die Aufzeichnungen einiger weniger behalten. Ich überflog alle Ordner und sortierte seine Kontoauszüge, Karten, Briefe, seine Unterrichtsunterlagen und Diplome heraus. Übrig blieben die Ordner von fünf Schülern. Mary Anderson, Randy Deever, Willy Stienmetz, Tommy-Sue Robertson und Paul Nolan. Alle aus der sechsten Klasse des Jahres 1954/55.
    Ein rascher Blick informierte mich darüber, daß Tommy-Sue ihren Vornamen abgelegt hatte und zu Susan Robertson geworden war; sie hatte in Physik und Mathematik promoviert. Eine Notiz in der fast unleserlichen Handschrift meines Vaters besagte, daß Paul Nolan an der Brown University aufgenommen worden war. Ich nahm aus Paul Nolans Ordner das auf einer Seite ausgearbeitete Thema „Mein Lieblingstraum“ heraus.
    Ich habe keinen Lieblingstraum. Ich träume überhaupt nicht oft. Aber wenn ich träume, dann ist es schrecklich. Von einem Mann – er ist von Schmutz und Blut und schwarzem Zeug bedeckt, als ob er sich wirklich schlimm verbrannt
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