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An Paris hat niemand gedacht

An Paris hat niemand gedacht

Titel: An Paris hat niemand gedacht
Autoren: Veronika Peters
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Kati hält die Hand über ihr Glas. »Ich muss noch fahren.«
    Vier Frauen im blauen Licht der hereinbrechenden Dämmerung hinter einem Totenhaus, denkt Marta; Raphaela hätte das gefallen. Sie hätte ihr Schreibheft gezückt, sich versonnen lächelnd Notizen gemacht und die Szene später irgendwo eingebaut, wo keine der Beteiligten jemals mehr als einen Verdacht bezüglich ihrer Vorbildfunktion für die Erzählung hätte haben können. Marta nimmt sich vor, Greta irgendwann zu erzählen, wie es war mit Raphaela: wie diese mitunter für Wochen in den Strängen eines Romans verschwand, nur zum Essen auftauchte, das sie abwesend und stumm zu sich nahm, um gleich wieder an den Schreibtisch zu verschwinden. War das Buch fertig, gingen sie groß aus, tranken Champagner, und Raphaela versicherte
Marta, dass sie der einzige Mensch sei, den sie in solchen Phasen um sich herum ertragen könne. Von den Zeiten während Raphaelas Auslandsaufenthalten wird sie erzählen, in denen Marta dieses schöne alte Gemäuer nur mit einigen Tieren zu teilen brauchte, und von der Ruhe, die dann über sie kam. Dass Raphaela hilfsbedürftige Wesen magisch anzog: Katzen ohne Schwanz, streunende Hunde, Krähen mit gebrochenen Flügeln, ein heimatloses Mädchen, das länger bei ihr kleben blieb als ursprünglich vorgesehen. Sie würde Raphaelas Liebe verraten und Greta zu beruhigen versuchen, falls sie Beruhigung wünschte: Nein, Mutter ist sie mir keine gewesen. Dass dies Greta einschloss, vielmehr ausschloss, würde sie ihr verschweigen, einfach aus dem Grund, dass sie sich dessen nicht sicher war.
    Auf dem Nachbargrundstück geht eine Lampe an, Schritte sind zu hören, eine Autotür wird zugeschlagen, das Brummen des Motors verliert sich in der feuchten Abendluft.
    »Raucht ihr?« Marta hält ihre Zigarettenpackung in die Runde, Kati schnaubt verächtlich, Greta nimmt eine, Sophia schüttelt freundlich den Kopf.
    »Feuer?«
    Gretas Hand legt sich um Martas Rechte. Eine ganz normale Berührung, rein praktisch motiviert, wie sie vor Kneipen zwischen wildfremden Menschen stattfindet, die einander beim Anzünden einer Zigarette behilflich sind, ohne dass dies weitere Konsequenzen hätte. Gretas Hand ist warm und trocken.
    »Danke!«
    Sie schließt ihre Finger um Martas Handgelenk, streicht mit dem Zeigefinger über die frische Narbe.
    »Warum haben wir einander nicht geholfen, die wir da drin gefangen waren?«, flüstert Greta heiser. »Warum hat sich jede von uns in ihren eigenen Kerker zurückgezogen?«

    Marta entzieht ihr die Hand und denkt: Sie hat kein Recht, diese Frage zu stellen. Greta fährt fort: »Lange habe ich in dem Glauben gelebt, die Hölle hier sieht sauber aus von außen, keiner bemerkt etwas. Erst später habe ich Nachbarn getroffen, die sagten: ›Wie gut, dass Sie von dort weg sind, Sie und die Mädchen. Wir haben sie gehört, die Schreie, das Weinen, Geräusche, die uns Sorgen machten. Wir dachten: die arme Frau!‹ Auf die Frage, warum sie nicht versucht haben zu helfen, wussten sie nicht zu antworten. Ich habe sie angeschrien, sie sollen sich zum Teufel scheren! Da sind sie betreten abgezogen, doch ich habe gedacht: mich selbst hätte ich anschreien sollen. Ich habe es viel zu lange mit dem Teufel gehalten.«
    Kati läuft eine Träne die Wange herunter, Sophia und Marta schweigen.

    Die Wolken sind die Decken Niamyes. Sie fliegen schnell, wenn es Regen gibt. Damit zeigt er den Menschen an, dass sie achtgeben sollen. Unten sind die Wolken weiß und oben rot. Wenn sie erscheinen, dann bedeutet es, dass Niamye mit den Menschen zufrieden ist und ihnen rechtzeitig die Warnung zukommen lassen will.
    Der Himmel ist völlig klar, der Blick auf die leuchtende Sichel über dem Waldrand ungetrübt.
    Der Mond heißt Niamye-ba, wir vermuten, der Sumpf war seine Mutter, aber wir wissen es nicht.

    »Da hat er uns doch etwas Gutes hinterlassen«, bricht Greta in die Stille ein und lässt den letzten Schluck Wein in ihrem Glas kreisen. »Ich hätte dableiben sollen«, murmelt sie versonnen, »bis ich mit eigenen Augen gesehen habe, wie das Grab geschlossen wird. Den Friedhofsgärtnern dabei zusehen, wie sie die Erde
feststampfen, mit den Absätzen ihrer Stiefel die letzten Brocken einebnen, zack, zack, zack …«
    Sophia fällt ihr ins Wort: »Ich glaube, heutzutage schonen die ihre Schuhe und benutzen Maschinen, Mama. Auf dem Friedhof stand so ein kleiner Bagger.«
    »Noch besser.«
    »Also wirklich!« Kati verzieht angewidert die
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