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An einem Tag im Winter

An einem Tag im Winter

Titel: An einem Tag im Winter
Autoren: Judith Lennox
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vom Cavendish-Laboratorium zum Seminar erschienen. Natürlich war das nur eine Metapher, aber Ellen wusste genau, was er meinte.
    Sie bereitete gerade einen Satz Kristalle für Jan Kaminski vor, als sie von fern erhobene Stimmen hörte. Anfangs ignorierte sie sie und kehrte an den stillen, leeren Ort innerer Ruhe zurück, an dem sich ihre Gedanken ungehindert entfalten konnten. Aber die Stimmen wurden immer lauter, sodass sie schließlich in den Flur hinausging, um nachzusehen. Sie kamen aus dem Turm. Die eine Stimme gehörte Marcus Pharoah, die andere, so vermutete sie, Dr. Redmond. Einzelne Wörter konnte sie nicht ausmachen, nur das unangenehme, dissonante Auf und Ab des ausgetragenen Streits.
    Da sie nicht lauschen wollte, kehrte sie schnell in ihr Zimmer zurück. Durch die geschlossene Tür hörte sie einen der Männer mit schnellem, resolutem Schritt aus dem Turm kommen. Dr. Pharoah, vermutete sie – Dr. Redmond schlurfte eher, er hob beim Gehen kaum die Füße. Ellen konzentrierte sich wieder auf die Herstellung des winzigen Drahtgehäuses und bemühte sich, den Draht so zu biegen, dass es genau die richtige Größe bekam, um den Kristall fest zu umfassen. Draußen knallte eine Tür. Schritte folgten, dann ertönte ein lautes Scheppern, als hätte es einen Zusammenstoß gegeben.
    Als Ellen einige Zeit später zur Mittagspause nach unten gehen wollte, fiel ihr im Korridor aus dem Löscheimer verstreuter Sand auf. In dem Eimer lag etwas. Sie nahm es heraus. Es war ein Osmiroid-Füllfederhalter, Schildpatt mit vergoldeter Verschlusskappe. Auf der Hülse war der Name eingraviert: B. D. J. Redmond. Dr. Redmond musste über den Löscheimer gestolpert sein und dabei den Füller verloren haben.
    Mit einer gewissen Beklemmung betrat sie den Turm; sie wusste, dass sie eine Grenze überschritt. Es war stiller dort als in den anderen Räumen, aber auch kälter, weil drei der Mauern Außenmauern waren. Auf dem offenen Treppenabsatz standen Regale, deren Bretter sich unter dem Gewicht staubiger, vergilbter Zeitschriften bogen.
    Â»Dr. Redmond?«, rief sie, bekam aber keine Antwort. Doch würde er ihr überhaupt antworten, auch wenn er inzwischen wieder in seinem Labor war? In den vier Wochen, die sie nun in Gildersleve Hall arbeitete, hatte er nicht einmal mit ihr gesprochen.
    Sie ging nach oben. Auf dem oberen Treppenabsatz klopfte sie an die Tür, dann trat sie ins Labor. Geniale Unordnung, hätte man sagen können, aber Chaos wäre eine treffendere Beschreibung der wilden Ansammlung von Büchern, Journalen und wissenschaftlichen Geräten gewesen. Licht spendete nur das hohe, schmale Fenster mit Blick zum Garten und zum Wäldchen. Dort unten sah sie Dr. Redmond stehen, der mit einem Feldstecher in die Bäume hinaufschaute.
    Rasch lief sie wieder nach unten, holte ihren Mantel aus der Kammer und ging ins Freie hinaus. Die Luft war kühl und frisch, kleine Windstöße schüttelten die kahlen Äste der Pappeln.
    Â»Hallo, Dr. Redmond!«, rief sie, und er drehte sich nach ihr um. »Ich wollte Ihnen nur das hier bringen.« Sie hielt den Füller hoch. »Er lag im Löscheimer.«
    Dr. Redmond klopfte mit der Hand auf seine Jackentasche, dann nahm er den Füller an sich.
    Â»Haben Sie etwas Interessantes beobachtet?«, fragte sie ihn.
    Â»Eine Misteldrossel.« Er blickte zwinkernd zum Himmel hinauf. Seine Augen waren groß und blassblau, von beinahe farblosen Wimpern umkränzt. »In diesem Wäldchen hat es immer eine Misteldrossel gegeben«, sagte er. »Selbst als sie die Bäume umgeschlagen haben, ist sie geblieben.«
    Â»Welche Bäume?«
    Â»Da unten.« Er deutete auf die Wiese, die an das Wäldchen grenzte. »Vor dem Krieg war der Wald hier doppelt so groß. Blinde Zerstörungswut – vergeudete Mühe und sinnlose Vernichtung eines gewachsenen alten Waldgebiets. Der Boden ist immer schon sumpfig gewesen. Zum Anbau war er nie geeignet.«
    Â»Trotzdem ist es schön hier.«
    Â»Kein Vergleich mit Peddar’s Wood, was den Vogelbestand angeht. Ich gehe dort jeden Tag spazieren. Und immer gibt es etwas zu beoachten.«
    Â»Das muss interessant sein«, sagte sie, doch dann zog eine Bewegung in den oberen Ästen seine Aufmerksamkeit auf sich, und er verlor das Interesse an dem Gespräch. Ohne ein weiteres Wort wandte er sich von ihr
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