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An einem Tag im Winter

An einem Tag im Winter

Titel: An einem Tag im Winter
Autoren: Judith Lennox
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ab und hob wieder seinen Feldstecher.
    Im selben Moment jagte ein gestromter Bullterrier durch das Unterholz auf sie zu. Flatternder Flügelschlag, Dr. Redmond zuckte zusammen und trat einen Schritt zurück.
    Â»Gosse sollte diesen Hund an der Leine halten«, brummte er und schlurfte mit gesenktem Kopf davon.
    Der folgende Tag war ein Samstag. Ellen fuhr mit dem Bus nach Cambridge und nahm den Zug nach London, um sich mit Daniel zu treffen. Als sie am Bahnhof King’s Cross ausstieg, bemerkte sie Dr. Redmond unter den angekommenen Passagieren. Wenig später war er in der Menge verschwunden, die die Stufen zu den unterirdischen Bahnsteigen hinunterdrängten.
    Daniel erwartete sie an der Sperre. Er gab ihr einen Kuss auf die Wange und wollte wissen, wie die Reise gewesen sei. Dann fuhren sie mit der U-Bahn zum Leicester Square, wo sie die National Gallery besuchen wollten. Unterwegs fragte sie ihn nach seiner Arbeit. »Es gab unheimlich viel zu tun. Diese Woche habe ich fast jeden Abend bis in die Nacht gearbeitet«, erzählte er und schob sich das herabfallende Haar aus den Augen.
    Â»Du Armer. Du bist sicher ganz fertig.«
    Â»Ach, die zusätzliche Arbeit macht mir nichts aus, es ärgert mich nur, dass ich die Konzertkarte, die ich mir besorgt hatte, an Clarence weitergeben musste.«
    In der National Gallery sahen sie sich vor allem die Gemälde Tizians an, die Daniel bevorzugte. Er mochte die Moderne nicht, seine Abneigung erstreckte sich bis auf die Kunst des neunzehnten Jahrhunderts, obwohl er Turner und Pissarro eine gewisse widerwillige Bewunderung nicht versagen konnte. Als Ellen einmal gereizt zu ihm gesagt hatte: »Aber Daniel, du kannst doch nicht sämtliche Maler des zwanzigsten Jahrhunderts in Bausch und Bogen verdammen«, hatte er sie aus großen blauen Augen verwundert angesehen und entgegnet: »Entschuldige, Ellen, aber willst du etwa Aktaion überrascht Diana beim Bade mit einem Jackson Pollock vergleichen?«
    Er wusste eine Menge über Kunst, und sie hatte sich die Vorträge, die er gern zu jedem Gemälde hielt, stets angehört, und nicht selten mit Vergnügen, aber heute schweiften ihre Gedanken nach Gildersleve Hall ab, während ihr Blick auf die wirbelnden Glieder und Gewänder von Bacchus und Ariadne gerichtet war. Es fiel ihr schwer, die Fäden ihres früheren Lebens wiederaufzunehmen. Sie fühlte sich eingerostet, gehemmt, beinahe wie fehl am Platz.
    Als Daniel seine Ausführungen zu Pinselführung und Tizians Einsatz der Farben beendete, sagte Ellen: »Es wundert mich jedes Mal wieder, dass ausgerechnet Bacchus und Ariadne eines deiner Lieblingsbilder ist. Es ist so wild und voll unbändiger Gewalt.«
    Er lächelte nachsichtig. »Nein, Ellen, du siehst das Entscheidende nicht. Das Gemälde mag voll unbändiger Gewalt erscheinen , aber die Komposition ist unglaublich beherrscht.«
    Â»Die Komposition ist doch nur ein Mittel zum Zweck, eine Technik, um zu vermitteln, was der Künstler sagen will.« Sie betrachtete die Gestalt des Bacchus, die angriffslustige Haltung der Schultern, die angespannten Muskeln, die Begierde in dem Blick, der die fliehende Ariadne verfolgte. »Schau dir doch nur mal den Ausdruck in ihren Gesichtern an. Da ist so viel Dunkles.«
    Â»Ich verstehe nicht, warum dich meine Bewunderung für das Bild überrascht.«
    Â»Liebe, Daniel, oder Leidenschaft«, versetzte sie ungeduldig, »doch auf jeden Fall mehr als bloße Bewunderung.«
    Â»Gefühlsduselei hat in der Kunst nichts zu suchen«, erklärte er steif.
    Â»Genau das meine ich. Du drückst dich so gemessen aus, aber was dich berührt, ist Kunst voller Leidenschaft, Begierde und Furcht.«
    Schweigend verließen sie den Saal. Der Streit zwischen ihnen war wie aus dem Nichts aufgeflammt. Sie hatten noch nie zuvor gestritten, und sie fragte sich bestürzt, was geschehen war. Sein Gesicht war wie versteinert; mit schlechtem Gewissen drückte sie seine Hand.
    Später aßen sie in einem kleinen französischen Restaurant am Strand zu Mittag. Tische standen locker gruppiert in einem quadratischen Raum, dessen Fenster auf einen begrünten Innenhof ging. An einem schönen Abend im letzten Sommer hatten sie in diesem Garten gegessen. Daniel allerdings waren die Wespen zuwider gewesen.
    Er bestellte Steak mit Kartoffeln, und Ellen nahm ein Omelett mit Salat. Als das Essen gebracht wurde,
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