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American Gods

American Gods

Titel: American Gods
Autoren: Neil Gaiman
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die Fähigkeit zu überleben darstellte. Shadow wurde noch ruhiger, noch schattenhafter als zuvor. Unwillkürlich beobachtete er die Körpersprache der Wärter, die der Mithäftlinge, suchte nach einem Hinweis auf das Böse, das sich, wovon er überzeugt war, bald ereignen würde.
    Einen Monat, bevor er entlassen werden sollte. Shadow saß in einem kalten Büro einem klein gewachsenen Mann gegenüber, der ein portweinfarbenes Muttermal auf der Stirn hatte. Zwischen den beiden ein Schreibtisch, auf dem Shadows Akte aufgeschlagen lag; der Mann hielt einen Kugelschreiber in der Hand, dessen Ende arg abgekaut war.
    »Ist Ihnen kalt, Shadow?«
    »Ja«, sagte Shadow. »Ein bisschen.«
    Der Mann zuckte die Achseln. »Kann man nichts machen«, sagte er. »Die Heizung läuft nur von Dezember bis März. Ich hab die Regeln nicht gemacht.« Er fuhr mit dem Zeigefinger über einen Papierbogen, der an die linke Innenseite des Ordners geheftet war. »Sie sind zweiunddreißig Jahre alt?«
    »Jawohl, Sir.«
    »Sehen aber jünger aus.«
    »Ich lebe gesund.«
    »Es heißt hier, dass Sie ein Muster von einem Strafgefangenen sind.«
    »Habe meine Lektion gelernt, Sir.«
    »Tatsächlich?« Er sah Shadow aufmerksam an, wobei sich das Muttermal auf der Stirn senkte. Shadow dachte kurz daran, dem Mann ein bisschen was von seinen Ansichten übers Gefängnis zu erzählen, sagte dann aber doch nichts. Stattdessen nickte er und konzentrierte sich darauf, angemessen reumütig zu erscheinen.
    »Ich lese hier, dass Sie eine Frau haben, Shadow.«
    »Sie heißt Laura.«
    »Wie steht’s mit Ihnen beiden?«
    »Ziemlich gut. Sie hat mich besucht, so oft sie konnte – es ist für sie eine weite Anreise. Wir schreiben uns, und ich ruf sie an, wenn es sich einrichten lässt.«
    »Was macht Ihre Frau beruflich?«
    »Sie arbeitet in einem Reisebüro. Schickt die Leute durch die ganze Welt.«
    »Wie haben Sie sich kennen gelernt?«
    Shadow konnte sich keinen Reim darauf machen, warum der Mann das wissen wollte. Er war drauf und dran, ihm zu sagen, dass ihn das nichts angehe, sagte dann aber: »Sie war die beste Freundin von der Frau meines besten Freundes. Die beiden haben uns zu einem Blinddate zusammengebracht. Und da hat es gefunkt.«
    »Und Sie haben eine Arbeitsstelle in Aussicht?«
    »Jawohl. Robbie, meinem Kumpel, von dem ich grad erzählt habe, gehört das Fitnesscenter, wo ich früher immer trainiert habe. Er hat mir versprochen, dass mein alter Job da auf mich warten würde.«
    Eine Augenbraue ging in die Höhe. »Tatsächlich?«
    »Er rechnet fest damit, dass ich dann die große Attraktion bin. Um ein paar alte Wracks anzulocken, aber auch die taffe Kundschaft, die gern noch taffer wäre.«
    Der Mann schien zufrieden zu sein. Er kaute an der Spitze seines Kugelschreibers und schlug dann eine Aktenseite um.
    »Wie denken Sie über Ihre Straftat?«
    Shadow zuckte die Achseln. »Ich war dumm«, sagte er und meinte es ernst.
    Der Mann mit dem Muttermal seufzte. Er hakte ein paar Punkte auf einer Checkliste ab. Dann blätterte er zerstreut in Shadows Akte. »Wie kommen Sie von hier nach Hause?«, fragte er. »Greyhound?«
    »Flugzeug. Zahlt sich aus, wenn man eine Frau hat, die im Reisebüro arbeitet.«
    Der Mann runzelte die Stirn, wodurch das Muttermal Falten warf. »Sie hat Ihnen ein Ticket zugeschickt?«
    »War nicht nötig. Sie hat mir nur eine Bestätigungsnummer mitgeteilt. Elektronisches Ticket sozusagen. Ich brauche weiter nichts zu tun, als in einem Monat am Flughafen zu erscheinen und denen meinen Ausweis zu zeigen, und schon bin ich weg.«
    Der Mann nickte, kritzelte eine letzte Notiz, schlug dann die Akte zu und legte den Kugelschreiber aus der Hand. Wie zwei rosa Tiere ruhten die blassen Hände auf der grauen Schreibtischplatte. Er schob die Hände dicht zusammen, stellte die Zeigefinger zu einem Spitzturm auf und starrte Shadow aus wässrigen Haselnussaugen an.
    »Sie können von Glück reden«, sagte er. »Sie haben jemanden, zu dem Sie zurückkehren können, und es wartet ein Job auf Sie. Sie können das Ganze hier hinter sich lassen. Sie haben eine zweite Chance. Machen Sie das Beste daraus.«
    Der Mann bot Shadow zum Abschied nicht die Hand, aber das hatte Shadow auch nicht erwartet.
    Die letzte Woche war die schlimmste. In mancher Hinsicht war sie schlimmer als die ganzen drei Jahre zusammengenommen. Shadow fragte sich, ob das wohl am Wetter lag: Es war drückend, ruhig und kalt. Es fühlte sich an, als würde bald ein Sturm
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