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Amelia Peabody 16: Wächter des Himmels

Titel: Amelia Peabody 16: Wächter des Himmels
Autoren: Elizabeth Peters
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Speerspitze verharrte empfindlich nah vor seiner Brust.
    »Du bist ein Narr«, murmelte die Alte. »Oder verliebt. Wie dem auch sei, ihr geschieht nichts, solange du vernünftig bist. Rühr dich nicht von der Stelle. Sprich leise, wenn du etwas zu sagen hast.«
    Sie führte Nefret auf die Seite des Sarkophags und drückte das Mädchen auf einen Stapel Kissen. Nefret wirkte ganz entspannt, sie atmete tief und gleichmäßig. Ramses blickte zu dem Mann mit dem Eisenspeer, dem absolut nicht wohl in seiner Haut zu sein schien. Keine angenehme Lage, in der sich der Bursche befand, zwischen der giftigen Alten und dem Zorn des Bruders der Dämonen. Er bezweifelte, dass der Speer zum Einsatz käme, trotzdem durfte er nichts riskieren. Er zwang sich zur Ruhe. »Was wollt ihr denn eigentlich?«, meinte er gedehnt.
    »Die Vergangenheit und die Zukunft. Ihre Erinnerungen an den großen Vater Forth. Ihre Prophezeiungen von dem, was kommen wird. In diesem Zustand steht der Schlafenden die Zeit offen. Es ist kein Strom, der in eine Richtung fließt, sondern ein See, in dem sie sich treiben lassen kann.«
    Trotz seiner Besorgnis um Nefret war Ramses fasziniert. Wie war diese ungebildete, einfache alte Frau auf eine Zeittheorie gestoßen, wie sie einige moderne Denker ebenfalls vertraten? Er wusste, was mit Nefret geschehen war. Sie befand sich in dem gleichen Trancezustand, in den Tarek ihn seinerzeit versetzt hatte – eine in vielen Kulturen und Epochen praktizierte Technik, für die unterschiedliche Bezeichnungen kursierten. Er hatte nur eine vage Erinnerung an jenes bizarre Erlebnis, damals war er aufgewacht wie aus einem traumlosen Schlaf, ohne negative Begleiterscheinungen. War seine Miene damals genauso gelöst gewesen – unbegreiflich gelassen, milde lächelnd? Er wusste, es wäre fatal, sie jetzt zu wecken. Nur ein Hypnotiseur konnte das tun.
    Die alte Frau rückte Nefret die Kissen zurecht, ihre knotigen Hände fürsorglich sanft. Sie hob Nefrets gesenkten Kopf an und Ramses überlief eine Gänsehaut, da das Mädchen starr in dieser Pose verharrte, wie eine hübsche Puppe mit blauen Glasaugen.
    Die Alte drehte sich um. »Sie ist bereit.«
    Obschon der gigantische Sarkophag den Blick auf die andere Seite des Raums versperrte, vermutete Ramses, dass es noch andere Kammern geben müsse, in denen Grabbeigaben und Opfergeschenke lagerten. In einer davon hatte die Alte gemeinsam mit Nefret gewartet, sowie eine dritte Person. Diese steuerte eben um die Rundung des Sarkophags.
    »Verzeiht«, hob er an.
    »Ich habe Euch vertraut, Tarek! Wie sie auch. Warum habt Ihr das getan?«
    »Es musste sein«, sagte Tarek sanft, aber bestimmt. »Vergebt mir, dass ich Euch getäuscht und unbotmäßig behandelt habe, aber Ihr hättet sie niemals herkommen lassen, wenn ich Euch eingeweiht hätte. Es ist zu ihrem eigenen und zu Eurem Besten, und auch für mich. Hört zu und Ihr werdet alles erfahren. Und dann werde ich mich, so Ihr es denn verlangt, jeder von Euch geforderten Strafe stellen.«
    Daran hatte Ramses keinen Zweifel. Tarek war noch immer ein unverbesserlicher Romantiker und der schwärmerische Ausdruck auf seinem Gesicht schien echt.
    »Weck die Schlafende nicht auf«, murmelte die Alte. »Der Zauber wirkt. Er darf jetzt nicht gebrochen werden.«
    »Verflucht«, zischte Ramses hilflos. Es war gespenstisch und grotesk – Nefrets goldblonder Schopf lehnte an dem schweren Marmorsarg, in dem die Gebeine ihres Vaters lagen.
    Das Schlimmste sollte noch kommen. Die alte Frau fing an, in einem leisen Singsang zu murmeln. Und Nefret antwortete ihr. Ihr Gesicht veränderte sich, wurde rundlicher, weicher. Ihre Stimme war die eines Kindes, hoch und süß und hell. Tarek schien ihr angespannt zu lauschen. Nefret artikulierte sich in einer Mischung aus Englisch und Meroitisch, untermalt von leisem Gekicher. Ihr Gesicht verwandelte sich von Augenblick zu Augenblick: Sie lachte, wurde ernst, dann todtraurig, die kindlichen Züge wichen denen einer Heranwachsenden. Tränen schimmerten in ihren Augen, rollten ihr über die Wangen, dann lachte sie wieder, ein hohes kindliches Kieksen, ihr Gesicht noch feucht. Ramses verstand nicht alles, was sie sagte, doch wurde ihm zunehmend deutlich, dass sie auf etwas reagierte, nicht auf die Alte, sondern auf jemand anderen, eine Stimme, die nur sie vernahm. Sie drehte den Kopf, presste ihre Wange an den kalten Stein.
    »Aufhören«, japste Ramses. Er wand die Hände, krampfhaft bemüht, die Fesseln zu lockern.
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