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Am Ufer

Am Ufer

Titel: Am Ufer
Autoren: Paulo
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einzige Standbild dar, das noch einen Kopf hat?«
    »Die heilige Teresa von Avila«, antwortete er. »Sie ist mächtig. Trotz aller Rachegelüste, die Kriege mit sich bringen, hat niemand gewagt, Hand an sie zu legen.«
    Und er nahm mich bei der Hand, und wir gingen hinaus. Wir wandelten durch die endlosen Flure des Klosters, gingen breite Holztreppen hinauf und sahen die Schmetterlinge in den Innenhöfen. Ich erinnerte mich an jede Einzelheit dieses Klosters, denn dort war ich in meiner Kindheit gewesen, und die weit zurückliegenden Erinnerungen scheinen oft lebendiger zu sein als die kürzlich erworbenen.
    Erinnerung. Der ganze letzte Monat schien wie alles vor dieser Woche einem anderen Leben anzugehören. Einer Epoche, in die ich nie wieder zurückkehren wollte, weil ihre Stunden nicht von der Hand der Liebe berührt worden waren. Ich fühlte mich so, als hätte ich jahrelang immer denselben Tag gelebt, als wäre ich immer gleich aufgewacht, hätte immer dasselbe getan und immer dieselben Träume gehabt.
    Ich erinnerte mich an meine Eltern, an die Eltern meiner Eltern und an viele Freunde. Ich erinnerte mich daran, wieviel Zeit ich damit verbracht hatte, für etwas zu kämpfen, was ich nicht wirklich wollte.
    Warum hatte ich das getan? Ich fand keine Erklärung. Vielleicht war ich zu faul gewesen, an andere Wege zu denken. Vielleicht war es die Angst gewesen, was die anderen denken könnten. Vielleicht weil es zu anstrengend war, anders zu sein. Vielleicht weil der Mensch dazu verdammt war, in die Fußspuren der vorangegangenen Generation zu treten, bis – und da erinnerte ich mich an den Klostervorsteher – eine bestimmte Anzahl von Menschen beginnt, sich anders zu verhalten.
    Dann erst verändert sich die Welt, und wir verändern uns mit ihr.
    Doch ich wollte nicht mehr so sein. Das Schicksal hatte mir zurückgegeben, was mir gehörte, und jetzt bot es mir die Möglichkeit, mich selbst zu verändern und dabei mitzuhelfen, die Welt zu verändern.
    Ich dachte wieder an die Berge und die Bergsteiger, die wir auf unserer Wanderung getroffen hatten. Sie waren jung gewesen und bunt gekleidet, damit man sie fand, falls sie sich im Schnee verirrten, und sie kannten den Weg zum Gipfel genau.
    An den Steilwänden waren schon Aluminiumschlaufen angebracht, sie mußten nur noch ihre Haken einklinken, um sich anzuseilen und sicher oben anzukommen. Sie waren zu einem Feiertagsabenteuer aufgebrochen und würden mit dem Gefühl an ihre Arbeitsplätze zurückkehren, die Natur herausgefordert und besiegt zu haben.
    Doch sie machten sich etwas vor. Abenteurer waren diejenigen gewesen, die als erste beschlossen hatten, die Wege zu erkunden. Einige hatten es nicht einmal bis auf halbe Höhe geschafft und waren in Felsspalten gestürzt. Anderen waren die Finger abgefroren. Viele wurden nie wieder gesehen. Doch eines Tages schaffte es einer bis auf einen der Gipfel.
    Seine Augen sahen als erste jene Landschaft, und sein Herz schlug schneller vor Freude. Er hatte die Gefahren auf sich genommen, und er ehrte mit seinem Sieg alle, die beim Versuch, den Gipfel zu bezwingen, das Leben verloren hatten.
    Vielleicht dachten ja die Leute im Tal: ›Da oben ist doch gar nichts, nur Landschaft, lohnt sich das überhaupt?‹
    Doch der erste Bergsteiger wußte, daß es sich lohnte, die Herausforderung anzunehmen und sich ihr zu stellen. Er wußte, daß kein Tag dem anderen gleicht und jeder Morgen sein eigenes Geheimnis besitzt, den magischen Augenblick, in dem alte Welten unter- und neue Sterne aufgehen.
    Der erste Mensch, der jene Berge bestieg, muß sich die gleiche Frage gestellt haben, als er tief unten die kleinen Häuser mit ihren rauchenden Schornsteinen sah: »Ihre Tage gleichen einander, lohnt sich das überhaupt?«
    Heute sind die Berge erobert, die Astronauten auf dem Mond gewesen, es gibt auf der Erde keine neue Insel zu entdecken – mag sie auch noch so klein sein. Doch die großen Abenteuer des Geistes gibt es noch immer – und eines bot sich mir jetzt. Es war ein Segen. Der Klostervorsteher hatte nichts begriffen. Dieser Schmerz tut nicht weh.
    Selig sind die, die den ersten Schritt tun. Eines Tages werden die Leute wissen, daß Menschen fähig sind, die Sprache der Engel zu sprechen, daß wir alle die Gaben des Heiligen Geistes besitzen und daß wir Wunder tun, heilen, prophezeien, verstehen können.
    Wir wanderten den ganzen Nachmittag in der Schlucht umher und ergingen uns in Kindheitserinnerungen. Heute machte er zum
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