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Am Ufer

Am Ufer

Titel: Am Ufer
Autoren: Paulo
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fühlte mich wie in ihrem Leib, wußte, daß sie da war, uns mit ihren Steinwänden beschützte und uns mit ihrer Wand aus Wasser von unseren Sünden reinwusch.
    »Danke«, sagte ich laut.
    »Wem dankst du?«
    »Ihr. Und dir, der du das Werkzeug warst, das mich zum Glauben zurückführte.«
    Er trat ans Ufer des unterirdischen Sees. Er betrachtete das Wasser und lächelte.
    »Komm hierher«, bat er.
    Ich kam näher.
    »Ich muß dir etwas sagen, was du noch nicht weißt.«
    Seine Worte ließen mich angstvoll aufhorchen. Doch sein Blick war ruhig, und ich beruhigte mich wieder.
    »Alle Menschen auf Erden haben eine Gabe«, begann er. »Bei einigen offenbart sie sich spontan. Andere müssen an sich arbeiten, um sie herauszufinden. Ich habe in den vier Jahren im Seminar daran gearbeitet.«
    Jetzt mußte ich etwas »inszenieren« – um das Wort zu gebrauchen, das er benutzt hatte, als uns der Alte nicht in die Kirche lassen wollte.
    Ich mußte so tun, als hätte ich keine Ahnung.
    ›Das ist kein Unrecht‹ dachte ich. ›Dies ist eine Reise der Freude und nicht der Frustration.‹
    »Was macht man denn im Seminar?« fragte ich, um Zeit zu gewinnen und meine Rolle besser spielen zu können.
    »Das tut jetzt nichts zur Sache«, sagte er. »Tatsache ist, daß ich eine Gabe entwickelt habe. Ich kann heilen, wenn Gott es will.«
    »Das ist gut«, antwortete ich und spielte die Überraschte. »Da werden wir Arztkosten sparen!«
    Er lachte nicht. Und ich fühlte mich wie eine komplette Idiotin.
    »Ich habe meine Gabe mit den charismatischen Übungen entwickelt, die du gesehen hast«, fuhr er fort. »Anfangs war ich verwundert: Ich betete, bat den Heiligen Geist, er möge über mich kommen, legte meine Hände auf und gab so vielen Kranken ihre Gesundheit wieder zurück. Mein Ruhm begann sich zu verbreiten, und täglich standen Menschen am Tor des Priesterseminars Schlange, damit ich ihnen helfe. In jeder entzündeten, übelriechenden Wunde sah ich die Wundmale Christi.«
    »Ich bin stolz auf dich«, sagte ich.
    »Viele Leute im Kloster waren dagegen, doch mein Vorsteher stand zu mir.«
    »Laß uns diese Arbeit weiterführen. Wir werden gemeinsam durch die Welt reisen. Ich werde die Wunden reinigen, du segnest sie, und Gott wird seine Wunder tun.«
    Er wandte den Blick von mir ab und starrte in den See. Etwas schien in dieser Höhle gegenwärtig zu sein – wie damals in der Nacht, als wir uns am Brunnen von Saint-Savin betranken.
    »Ich habe es dir schon erzählt, aber ich werde es noch einmal sagen«, fuhr er fort. »Eines Nachts wachte ich auf, und das Zimmer war ganz hell. Ich sah das Antlitz der Großen Mutter und ihren Blick, der voll Liebe war. Von jenem Tag an zeigte sie sich hin und wieder. Ich habe keinen Einfluß darauf, doch manchmal erscheint sie mir.
    Damals wußte ich bereits von der Arbeit der wahren Revolutionäre der Kirche. Ich wußte, daß meine Mission auf Erden außer der des Heilens darin bestand, den Weg dafür zu bereiten, Gott und seiner weiblichen Seite wieder zu ihrem Recht zu verhelfen. Das weibliche Prinzip, die Säule der Barmherzigkeit, würde wieder aufgerichtet werden – und der Tempel der Weisheit in den Herzen der Menschen wieder aufgebaut.«
    Ich blickte ihn an. Sein anfangs angespannter Gesichtsausdruck war nun wieder ruhig.
    »Dies hatte seinen Preis, und ich war bereit, ihn zu zahlen.«
    Er schwieg, wußte nicht, wie er fortfahren sollte.
    »Was willst du mit ›ich war‹ sagen?« fragte ich.
    »Der Weg der Göttin könnte nur mit Worten und Wundern geebnet werden, wenn die Welt anders wäre, als sie ist. Aber so würde es schwieriger sein: Tränen, Unverständnis, Leiden würden nicht ausbleiben.«
    ›Der Pater‹, dachte ich. ›Er hat versucht, Angst in sein Herz zu säen. Doch ich werde sein Trost sein.‹
    »Nicht das Leid wird diesen Weg kennzeichnen, sondern die Ehre zu dienen«, entgegnete ich.
    »Die meisten Menschen mißtrauen der Liebe noch.«
    Ich spürte, daß er mir etwas sagen wollte und es nicht schaffte. Vielleicht konnte ich ihm helfen.
    »Das habe ich auch schon gedacht«, unterbrach ich ihn. »Der erste Mensch, der den höchsten Gipfel der Pyrenäen bestiegen hat, hatte begriffen, daß das Leben ohne Abenteuer verschenkt ist.«
    »Was meinst du damit?« fragte er, und ich sah, daß er wieder angespannt war. »Einer der Namen der Großen Mutter ist Unsere Heilige Mutter der Gnaden – weil sie aus großzügigen Händen ihre Segnungen an alle verschenkt, die für sie
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