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Am Ufer

Am Ufer

Titel: Am Ufer
Autoren: Paulo
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beschloß, die Uhr zu verkaufen, um ihr eine hübsche Silberspange für ihr Haar zu kaufen. Das Mädchen hatte auch kein Geld für ein Verlobungsgeschenk. Daher ging es zum Laden des größten Kaufmanns am Ort und verkaufte sein Haar. Mit dem Geld kaufte es eine goldene Kette für die Uhr seines Liebsten.
    Als sie einander beim Verlobungsfest wiedersahen, gab sie ihm die Kette für die Uhr, die verkauft worden war, und er gab ihr die Spange für das Haar, das es nicht mehr gab.‹
    Ich wachte auf, weil ein Mann mich schüttelte. »Trinken Sie«, sagte er. »Trinken Sie, schnell.« Ich wußte weder, was geschah, noch hatte ich die Kraft, mich zu wehren. Er öffnete meinen Mund und zwang mich, eine Flüssigkeit zu trinken, die mich von innen verbrannte. Ich bemerkte, daß er in Hemdsärmeln war und ich seinen Mantel trug. Er ließ nicht locker: »Trinken Sie mehr!« Ich wußte nicht, was los war, dennoch gehorchte ich. Dann schloß ich die Augen wieder.
    Ich wachte im Kloster wieder auf, und eine Frau schaute mich an.
    »Sie wären beinahe gestorben«, sagte sie »Ohne den Wärter vom Kloster wären Sie nicht mehr am Leben.«
    Ich stand taumelnd auf, wußte nicht genau, was ich tat. Ich erinnerte mich bruchstückhaft an das, was am Vortage geschehen war, und ich wünschte, der Wärter wäre dort nicht vorbeigekommen.
    Doch der richtige Augenblick für den Tod war vorüber. Ich würde weiterleben.
    Die Frau nahm mich mit in die Küche und gab mir Kaffee, Kekse und Brot mit Olivenöl. Sie stellte keine Fragen und gab auch keine Erklärungen. Als ich fertig gegessen hatte, reichte sie mir meine Tasche.
    »Sehen Sie nach, ob alles drin ist«, sagte sie.
    »Sicher. Ich hatte sowieso nichts.«
    »Sie haben Ihr Leben, mein Kind. Ein langes Leben. Geben Sie besser darauf acht.«
    »Es gibt in der Nähe eine Stadt mit einer Kirche«, sagte ich, und mir war zum Weinen zumute. »Gestern, bevor ich hierherkam, bin ich in diese Kirche gegangen mit…«
    Ich wußte nicht, wie ich es erklären sollte.
    »… mit einem Jugendfreund. Ich hatte schon genug von den vielen Kirchenbesuchen, doch die Glocken läuteten, und er sagte, es sei ein Zeichen, wir müßten hineingehen.«
    Die Frau schenkte meine Tasse wieder voll, nahm sich auch ein wenig Kaffee und setzte sich, um meiner Geschichte zuzuhören.
    »Wir traten in die Kirche«, fuhr ich fort. »Sie war leer, und drinnen war es dunkel. Ich versuchte, irgendein Zeichen zu entdecken, doch ich sah nur dieselben Altäre und dieselben Heiligenfiguren wie immer. Plötzlich hörten wir ein Geräusch auf der Empore, dort, wo die Orgel steht.
    Es war eine Gruppe junger Männer mit Gitarren, die ihre Instrumente zu stimmen begannen. Wir setzten uns, um ein wenig Musik zu hören, bevor wir unsere Reise fortsetzten.
    Kurz darauf kam ein Mann herein und setzte sich neben uns. Er war fröhlich und rief den jungen Männern zu, sie sollten einen Paso doble spielen.«
    »Aber das ist doch Stierkampfmusik!« sagte die Frau. »Ich hoffe, sie haben es nicht getan.«
    »Nein, das haben sie nicht. Doch sie lachten und spielten einen Flamenco. Mein Jugendfreund und ich hatten das Gefühl, der Himmel sei zu uns herabgestiegen. Die Kirche, die anheimelnde Dunkelheit, der Klang der Gitarren und die Fröhlichkeit des Mannes neben uns – dies alles war ein Wunder.
    Ganz allmählich füllte sich die Kirche. Die jungen Männer spielten weiter Flamencos, und die Hereinkommenden lächelten, ließen sich von der Heiterkeit der Musiker anstecken.
    Mein Freund fragte mich, ob ich an der Messe teilnehmen wollte, die gleich beginnen würde. Ich sagte nein – wir hatten eine lange Reise vor uns. Wir beschlossen hinauszugehen – doch vorher dankten wir Gott für diesen wunderbaren Augenblick.
    Kaum waren wir am Portal angelangt, da merkten wir, daß viele Leute, wirklich viele Leute, vielleicht sogar alle Bewohner der kleinen Stadt, zur Kirche strömten. Ich dachte, dies sei wahrscheinlich die letzte rein katholische Ortschaft in Spanien. Vielleicht, weil die Messen so fröhlich waren.
    Als wir in den Wagen stiegen, sahen wir einen Menschenzug herankommen. Die Leute trugen einen Sarg. Jemand war gestorben, und die Messe sollte eine Totenmesse sein. Als der Zug am Kirchentor angelangt war, verstummten die Flamencos, und die Musiker stimmten ein Requiem an.«
    »Möge Gott dieser Seele gnädig sein«, sagte die Frau, indem sie sich bekreuzigte.
    »Möge er ihr gnädig sein«, sagte ich und bekreuzigte mich auch. »Daß wir
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